Aber man gut, dass ich überpünktlich losgegangen bin. Eigentlich reicht es ja, eine Stunde vor dem Termin die Schuhe anzuziehen: bei der Straßenbahn bin ich in weniger als fünf Minuten, die fährt planmäßig alle fünf Minuten und braucht für die Strecke planmäßig keine halbe Stunde; in der Abteilung 213 ist es zwar nicht üblich, eine Viertelstunde vorher schon im Beratungszimmer aufzukreuzen, weil so furchtbar viel zu erzählen gibt es ja am Ende gar nicht, um die Schöffen in den Fall einzuweisen, aber Vorschrift ist Vorschrift und Eventualitäten beim Betreten des Gebäudes kann man ja auch noch mit einplanen, Ladung vergessen oder so, also ja, ein Stündchen vorher gehts los. Und diesmal also sogar noch ein paar Minuten eher, weil ich war halt schon fertig mit Frühstücken und Anziehen und allem, und wo ich dann warte, ist ja wurscht, also kann ich auch einfach schon eher losgehen. Jedenfalls hieß es dann aber am Hauptbahnhof prompt, die Bahn fahre nicht weiter zur Torstraße, sondern beende hier wegen eines Verkehrsunfalls ihre Fahrt. Blieb mir noch eine halbe Stunde (die Viertelstunde nicht mitgerechnet), aber es waren ja nur noch drei Stationen, eine davon auch noch absurd kurz, also mehr als genug Zeit für einen flotten Spaziergang. Dass mich dann doch noch eine Bahn überholt hat, wollte mich kurz fast verwirren, aber sie konnte ja schlecht vorm Hauptbahnhof stehen bleiben, sondern ist einen Kringel gefahren zum Wenden. Zwei Jungs sind ihr noch wie bescheuert hinterhergerannt bis zur nächsten Station, dann aber doch wieder ausgestiegen, da gabs wohl noch eine erläuternde Durchsage.
Mitten auf der Kreuzung vorm Moabiter Knast stand auch wirklich halb abgebogen eine Tram herum, Spuren eines Unfalls waren aber nicht mehr zu sehen, und die Feuerwehr war auch schon wieder am Einpacken. Am Einlass des Gerichts wieder die ältere, leicht zerzaust aussehende, immer freundliche Justizbeamtin, die mir wie gehabt ganz in Ruhe erklärte, wo ich den Saal 105 finde. Den hatte ich mir allerdings nur mit Bleistift auf die Ladung geschrieben, denn diesmal fehlten darauf die Angaben zum Aktenzeichen und zum Saal, nur Datum und Uhrzeit waren vermerkt. Aber donnerstags ist meine Abteilung ja immer in der 105. Zur Sicherheit hab ich nochmal bei der 135 vorbeigeguckt, aber da hing überhaupt kein Zettel, offensichtlich fand da also an dem Tag gar nichts statt. Den vor der 105 hab ich mir dann gleich erstmal abgeknipst, von wegen Aktenzeichen. Mein Name stand nicht drauf, aber Abteilung im AKtenzeichen und Uhrzeit stimmten ja. Die Mitschöffin (die reguläre mal wieder) saß schon da und erkundigte sich nach meiner Ladung, sie hätte ihre vergessen und wollte auch nochmal sichergehen, dass wie hier richtig wären. Was ich dann eben auch nur mutmaßen konnte, aber eben doch mit stichhaltigen Indizien. Als Mitarbeiterin der Lichtenberger Verwaltung hatte sie im Übrigen aufgrund des vietnamesischen Namens des Angeklagten gleich eine Vermutung, worum es da gehen könnte: Menschenhandel.
Damit lag sie gar nicht falsch, im echten Juristendeutsch hieß das nur anders: Einschleusen von Ausländern in drei Fällen. Anwerbung über ein Facebook-Profil, Weiterreise der eingeschleusten nach Frankreich und Großbritannien. Der Angeklagte sei geständig, es habe schon Vorgespräche gegeben für eine Verständigung, ein Mittäter sei vor zwei Jahren verurteilt worden. Der Richter übrigens wieder derselbe wie beim letzten Mal, die Beisitzerin auch, der Richter war sich aber sofort sicher, dass er die Schöffin noch nicht kenne, Namen könne er sich zwar nicht merken, aber Gesichter sehr wohl.
Auf der Richterbank kurze Irritation bei der Personalienfeststellung: schon wieder gab es für den Angeklagten zwei verschiedene Namen, aber die zusätzliche Abweichung klärte sich als unterschiedliche Aussprache derselben Schreibweise auf. Die Dolmetscherin mit ihrem recht deutlichen Akzent war zum Teil nicht übermäßig gut zu verstehen, zudem hatte sie auch gar nicht das sonst übliche Mikro für den Kopfhörer des Angeklagten dabei, sondern hat die ganze Zeit parallel mitgequatscht, und das im hallenden Saal mit Fenstern zur Straße raus, und neben mir die Protokollführerin mit ihrer klappernden Tastatur, aber naja, es ging, sie saß mit dem Angeklagten ganz vorn direkt vor der Richterbank, und alle haben hinreichend laut und deutlich gesprochen. Bis auf den Richter freilich, der dann zwischendurch auch wirklich irgendwann von der Dolmetscherin dafür kritisiert wurde, dass er immer so schnell und nuschelig spräche; er versprach Besserung und ermunterte sie, solche Kritik bitte immer sofort anzubringen.
Aber zurück zur Verhandlung. Beziehungsweise Vorverhandlung. Wieviel darf ich davon eigentlich berichten? Ist die Teil der öffentlichen Verhandlung? Nein. Aber wurde der Angeklagte rausgeschickt wie neulich? Nein. Und Besuch war doch auch da. Eine Jura-Studentin. Wollte der Richter wissen. Wer da zuhört. Aber ab wann? Und war die die ganze Zeit dabei? Zwischendurch wurde ja wieder aufgerufen. Aber das war ja immer nach unseren Beratungen im Hinterzimmer. Der Staatsanwalt, ein junger Kerl, den ich noch nicht gesehen habe (ich hatte ja mit Ausländerrecht noch nichts zu tun), verlas dann jedenfalls erstmal die Anklage (zwingenderweise Teil der öffentlichen Verhandlung): drei Fälle aus den Jahren 2022 und 2023, zwei gemeinschaftlich, einer allein, Einschleusen von Ausländern ohne Aufenthaltsberechtigung in der EU, zum persönlichen Vorteil. Einreise mit ungarischem Arbeitsvisum, Flug nach Budapest, von dort Zugfahrt nach Berlin und dann weiter nach Frankreich. Der Richter teilte dann den Stand der Vorgespräche mit: es gab schon Gespräche mit Staatsanwalt und mit Rechtsanwalt, alle seien zu einer Verständigung bereit, die Rahmen seien aber noch recht unterschiedlich: die Staatsanwaltschaft könne bei einem Geständnis und der Einziehung von Handy und SIM-Karte mit einer Strafe von weniger als anderthalb Jahren leben, dem Rechtsanwalt wäre aber wegen den Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus eine Strafe von weniger als einem Jahr wichtig. Der Angeklagte sei zwar 2022 ausreisepflichtig gewesen, erklärte er auf Rückfrage, sei dann aber wieder zurückgekehrt und habe nun eine Arbeitserlaubnis und sei ja auch ein beschäftigter steuerzahlender Mitbürger. Dem Staatsanwalt wäre eine Vergleichbarkeit mit dem Urteil des Mittäters wichtig, der mehr als anderthalb Jahre bekommen habe, die untere Grenze sei also wenigstens ein Jahr. Da der andere Verurteilte aber auch für fünf Fälle verurteilt worden sei, wäre hier auch sowas wie elf Monate und drei Wochen denkbar, so der Richter darauf.
Also haben wir Richter uns zur Beratung zurückgezogen. Und haben hin- und herüberlegt und erwogen und geblättert und nachgelesen. Und festgestellt, dass es gar nicht möglich ist, die rechtlich festgelegte Untergrenze von einem Jahr zu unterschreiten, die bei einer gewerbsmäßigen Vorgehensweise gilt. Bei der Einleitung der Verkündung dieses Ergebnisses wurde der Richter aber unterbrochen, denn das mit dem Jahr sei zwar aktuelles Recht, aber zur Tatzeit habe noch eine untere Grenze von sechs Monaten gegolten, das sei im Text (wo genau haben die das nachgelesen?) nur leider unübersichtlich dargestellt, man müsse bis ganz nach unten scrollen, um den alten Wortlaut zu finden, das oben sei der aktuelle, auch wenn man konkret nach der alten Fassung gesucht habe.
Also nochmal zurück zur Beratung. Und neue Verkündung. Die im Raum stehende Einstellung des ältesten Falls sei zwar schwierig zu begründen, aber mit einer Einzelstrafe von acht bis neun für den ersten bzw. sechs bis sieben Monaten für die beiden anderen Fälle könne man über eine Gesamtstrafe von mindestens elf Monaten und höchstens einem Jahr und zwei Monaten verhandeln.
Worauf der Rechtsanwalt auf die Beweislage zu Fall eins einging. Da sei die Beteiligung des Angeklagten nämlich auch durch die TKÜ nicht zweifelsfrei zu beweisen, der Rest der Aussagen stecke voller Widersprüche, alles nur Indizien, den Fall könne man sehr gut einstellen, und das angekündigte Geständnis würde im Übrigen diesen Fall auch gar nicht mit einschließen. Der Richter blätterte und las im Vernehmungsprotokoll, der Staatsanwalt parallel auch, der Rechtsanwalt auf seinem Laptop ebenso. Gegenseitiges Vorlesen der für relevant erachteten Stellen, Erörterungen zu den Einzelheiten und Abläufen des einen Tages, wer hat wo die fünfhundert Euro entgegengenommen, wer arbeitet üblicherweise wann und wo und kann also gar nicht dort gewesen sein, wer wurde da bei der geheimen Überwachung eigentlich konkret beschrieben, wer hat angerufen, wer den Anruf entgegengenommen, wessen Nummer ist das, wessen Adresse … die Beweise wurden gewürdigt! Zweifel schienen hier tatsächlich angebracht, der Staatsanwalt sah beinahe zerknirscht aus.
Nochmalige Beratung. Unterschiedliche Meinungen über die Möglichkeit, Verhältnismäßigkeit und Sinnhaftigkeit der Einstellung des Falls. Aber schließlich Einigung und Verkündung des Beschlusses: Einstellung des Falls eins nach 154 StPO, Einzelstrafen von sieben bis acht Monaten, auszusetzen auf eine Bewährung von drei bis vier Jahren, zusätzlich etwa 120 Sozialstunden als Wiedergutmachung. Rechtsanwalt und Angeklagter verließen den Saal für eine Beratung ihrerseits, kehrten aber mit einer Zustimmung zurück. Worauf der Angeklagte dann nochmal darüber belehrt wurde, was es mit so einer Verständigung auf sich hat.
Daraufhin konnte der Rechtsanwalt das Geständnis des Angeklagten verlesen: ja, die Anklage für die Fälle zwei und drei träfe zu, dies und das, an die Höhe der Einkünfte könne er sich aber nicht mehr erinnern, im Übrigen seien jetzt Frau und Kinder wichtig und er wolle im Land bleiben und nur noch seiner regulären Arbeit nachgehen. Worauf der Richter wieder mit seiner üblichen ausführlichen Befragung zu den persönlichen und sozialen Hintergründen anfing, Schulabschluss, Beruf, Einkommen, Verwandtschaft in Vietnam, Schulden aus den Vorstrafen, Wohnverhältnisse, Beziehung zu Frau und Kindern, Gesundheit, Suchtprobleme, erstmalige Einreise und so weiter. Zwischendurch offenbar Erstaunen beim Angeklagten und bei der Dolmetscherin, dass, ob und inwiefern das alles hier relevant sei, aber alle Fragen wurden beantwortet. Beim Thema Sprachkurs schob der Rechtsanwalt kurz ein, dass der Angeklagte durchaus viel besser Deutsch spräche, als man annehmen sollte, er sei nur recht schüchtern. Tatsächlich sprach er immer nur sehr knapp und leise zu seiner Dolmetscherin. Das bestätigte dem Richter ein offenbar oft zu beobachtendes Stereotyp, nach dem die Mitglieder der vietnamesischen Community vor Gericht immer besonders devot aufträten.
Dann kam noch eine Zeugin zu Wort. Eine Polizistin, die an den Ermittlungen beteiligt war. Sie dürfe einfach von vorne anfangen, meinte der Richter, woraufhin sie sich recht ausführlich und detailliert zu den Ermittlungen verbreitete, wer wann wodurch aufgefallen, welche Maßnahmen mit welchen Ergebnissen ergriffen, dabei hatte sie sogar noch etliche der Namen parat, offenbar hatte sie sich gut auf den Fall vorbereitet, denn in irgendwelchen Unterlagen hat sie da nicht geblättert. Und es ist ja wie gesagt schon ein paar Jährchen her. Nebenbei erwähnt sie die Kosten von 19.000 US-Dollar für das o.g. ungarisches Arbeitsvisum, konnte aber auf Rückfrage nichts dazu sagen, wie der in der Anklageschrift erwähnte Anteil von 450 € für den Angeklagten zustandekomme, wies aber auf die schwer nachzuvollziehenden Geldflüsse aus Vietnam hin und dass das Geld ja für vielerlei benötigt werde, für Visum und Flug und Zug und Bus und weitere Transporte und Papiere und Helfer. Der Rechtsanwalt hatte noch Fragen zur Adresse des Angeklagten, brach aber ab, weil das ja nur den Fall eins beträfe, und den hatten wir ja schon ausgeschlossen. Damit war die Zeugin entlassen.
Und es gab wieder einen Stapel Papier für alle, wir kannten das ja schon vom letzten Mal, Selbstleseverfahren, Beweiswürdigung, Verifizierung des Geständnisses (und der Zeugenaussage ja auch), für alle war ein Hefter von etwa drei Zentimetern Dicke da, und man einigte sich auf eine halbe Stunde für die Lektüre. Was gabs da zu lesen? Vor allem eine sogenannte Produktliste der TKÜ, genaue Aufführung von Telefonaten, Nachrichten, Datenpaketen und sonstigen Kommunikationen, detailliert aufgeschlüsselt mit Datum und Uhrzeit und Teilnehmern und IP-Adressen und Handynummern und so weiter, dazu die Übersetzungen der Nachrichten, Abschriften und Zusammenfassungen der Inhalte usw. Nach der Tabelle zum Fall eins auch noch etwas übersichtlichere Auflistungen zu den späteren Fällen, die sich auf die wesentlichen Informationen beschränkten und die wichtigen Fakten hervorhoben. Etliche Gespräche über Privatkram und geschäftliches, aber eben auch eindeutige Beweise für die Planung der Schleusungen. Dafür haben wir dann eher eine dreiviertel als eine halbe Stunde gebraucht.
Fortführung. Der Rechtsanwalt erklärte sich nochmal im Namen des Angeklagten mit der Einziehung des Handys einverstanden, das schon etwas veraltete Vorstrafenregister wurde verlesen, und dann folgte auch schon das Plädoyer des Staatsanwaltes: Geständnis, keine Zweifel, einschlägig vorbestraft, aber nach der Tat nicht mehr straffällig geworden, die alte Fassung verlange eine Strafe zwischen sechs Monaten und zehn Jahren, angemessen seien hier Einzelstrafen von sieben bis acht Monaten, Gesamtstrafe elf Monate und drei Wochen, auszusetzen auf eine Bewährung von drei Jahren, außerdem die Einziehung des Gewinns von 900 Euro und 120 Stunden soziale Arbeit ohne Entgelt.
Das Plädoyer des Rechtsanwalts hatte dem nichts hinzuzufügen, dauerte aber trotzdem nicht kürzer. Die Gewerbsmäßigkeit des Handelns wollte er dahingestellt lassen, betonte aber nochmal die gute Sozialprognose, die Entschuldigung und die legalisierte Vollzeitarbeit. Der Angeklagte schloss sich an. Unsere Beratung hat auch nichts anderes ergeben, und so wurde das Urteil dann verkündet. Zum Abschluss noch eine Regung beim jetzt Verurteilten: als er vom Richter abschließend ermahnt wurde, man wolle ihn hier nicht nochmal wiedersehen, musste er lachen und hat zugestimmt, nein-nein, das wolle er auch nicht. Die Erleichterung war mit Händen zu greifen.
Knapp drei Stunden hat das ganze insgesamt gedauert, ich hab im Anschluss noch meine Zettel zur Berechnungsstelle getragen und bin nochmal ins Café im fünften Stock des Gebäudes C gefahren, das nun zur Mittagszeit sehr viel voller war als sonst, und hab auf dem Balkon einen Milchkaffee getrunken und ein Foto von der Rückseite des ulkigen Gebäudes B gemacht:
Danach bin ich zur Abwechslung nochmal ins Büro gefahren, die letzten Tage meiner Anstellung habe ich ja vermehrt dort verbracht, um zum einen ein neues Projekt anzuschieben und zum anderen einen neuen Mitarbeiter einzuweisen, der aber nicht als mein Nachfolger gelten soll, weil er steckt ja noch mitten in einer Umschulung oder Ausbildung oder so. So richtig Ahnung vom Programmieren hat er also noch nicht. Und gestalterische Skills scheinen auch nicht vorhanden zu sein. Naja, wird schon schiefgehen.