Schon wieder eine Ersatzschöffin übrigens, die saß schon da, als ich kam (mit gar nicht so viel Vorlauf wie sonst, die Bahn hatte auch am frühen Vormittag noch so ihre Probleme, sich durch den Berliner Autoverkehr zu buddeln), auf einer Bank vor dem Saal, und folgte mir, als ich in den schon offenen Saal 105 eintrat. Diesmal musste ich zur Abwechslung mal wieder meine Ladung auch an dieser Stelle vorzeigen, sonst konnte ich ja immer einfach so behaupten, ein Schöffe zu sein, und bekam anstandslos Zutritt zum Beratungsraum. Und am Eingang zum Gebäude zeige ich die Ladung ja auch nur, um damit den Diensteingang nutzen zu können, ohne durch die Sicherheitsschleuse zu müssen, komme im Zweifel aber auch ohne rein. Also irgendwie schon auch beruhigend, dass ab und zu mal geprüft wird, ob das stimmt, was die Leute so erzählen den lieben langen Tag. Wenn ich vorher weiß, unter welchem Aktenzeichen wann und in welchem Saal ein Verfahren stattfindet, kann ich mir so eine Ladung natürlich auch einfach selbst ausdrucken, aber naja.
Irgendwie waren wir dann beide etwas verschüchtert und haben uns im Beratungszimmer gar nicht weiter beguckt und bequatscht, ich hab mir nur meine Papiere und meinen Stift zurechtgelegt und dann ein bisschen umgeschaut. Und den Aktenwagen in der Ecke entdeckt, darauf vier riesige Kartons, »Ordner I–VIII« oder »Ordner XXVI–XXXIII« stand da drauf, dazu eine gelbe Plastekiste mit weiteren Akten und ein Stapel Papiere ohne Aktendeckel, und auf allen stand das Aktenzeichen von heute, ach herrje, aber es war doch nur der eine Termin anberaumt? Was kommt denn da auf uns zu? Zeit, uns gegenseitig Mut zuzusprechen.
Da kamen der vertretende Richter und die Beisitzerin auch schon, sie war dieselbe wie beim letzten Mal, aber er war nicht der ältere Herr von vor einem Monat, sondern wer ganz anderes, stellte sich wohl auch vor, aber den Namen hab ich vergessen, nicht verstanden, nicht drauf geachtet, spielt ja auch keine Rolle, Namen sind Schall und Rauch, und genannt hätte ich ihn hier sowieso nicht. Schmucker junger Mann jedenfalls mit zusammengeknotetem halblangem Haar und eleganten weißen Strähnen im schwarzen Bart. Und erklärte uns mit leicht sarkastischem Ton die Lage: Betrug in 129 Fällen, konkret Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer, Schaden zulasten der Sozialversicherungsträger in Höhe von einer halben Million. Die ersten Fälle aus dem Jahr 2015, und es gab auch schon Vorgespräche zu einer Verständigung. Drei Geldstrafen bereits in ähnlichen Fällen, inzwischen aber gesundheitlich angeschlagen nach mehreren Herzinfarkten. Die Ermittlungen richteten sich ursprünglich auch gegen seine Frau, die die Firma offiziell dem Papier nach geleitet hat, aber die ist in der Zwischenzeit verstorben. Und dann die Ankündigung, dass auch ein Geständnis überprüft werden müsse, das wäre an den Amtsgerichten oft nicht so, und das sei nicht rechtens; da hat wohl jemand noch was vor im Leben.
Eröffnung des Verfahrens, im Saal ein Besucher, der Staatsanwalt ein älterer Herr, der Angeklagte mit zwei Anwält:innen da, in der Ecke der Richterbank noch ein Jungspund, der offenbar zur Protokollführerin gehörte, der sollte wohl zugucken, was sie da macht, und davon was lernen. Der Staatsanwalt verlas die Anklage, über vier Jahre hinweg falsche oder unvollständige Angaben über die Arbeitszeiten der Angestellten und damit Betrug der Sozialversicherungsträger, zusätzliche Verschleierung durch Hin- und Herzahlungen an Subunternehmer, die betroffenen Kranken- und Betriebs- und Rentenkassen wurden schön einzeln mit ihren jeweiligen Schadenssummen aufgezählt.
Der Richter tat daraufhin kund, was die Vorgespräche zu einer Verständigung ergeben hätten: dass man die minderschweren Fälle mit einer Schadenssumme von jeweils weniger als tausend Euro außen vorlassen könne und dann mit einer bewährungsfähigen Gesamtfreiheitsstrafe von unter zwei Jahren davonkäme, auszusetzen auf eine Bewährungszeit von drei oder vier Jahren. Ein Geständnis sei angekündigt, die Zeitverzögerung des Verfahrens sei unverständlich und auch die Staatsanwaltschaft habe Zustimmung signalisiert. Dann listete er die verbliebenen 35 Fälle auf mit ihrer Einordnung in verschiedene Schweregrade und die damit verbundenen Geld- bzw. Haftstrafen und kam auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von knapp zwei Jahren. Dazu die Einziehung der durch das Weglassen der minderschweren Fälle kaum geminderten Schadenssumme, und auch die eine oder andere Auflage für die Bewährungszeit wäre denkbar.
Der Staatsanwalt war damit einverstanden, die Rechtsanwält:innen wollten erst nochmal kurz mit ihrem Mandanten darüber beraten, also hatten wir ein paar Minuten Pause. Uns Schöffen warf der Richter halb scherzhaft je einen dicken Stapel Papier hin, das waren die ungedeckelten Papiere vom Aktenwagen, und ich habe schonmal interessiert darin geblättert, mich aber nicht weiter angesprochen gefühlt, denn meine Entscheidung soll ja ausschließlich aus dem Verfahren schöpfen oder wie das heißt, also Akteneinsicht eigentlich unnötig, weil mein Urteil nur das berücksichtigen soll, was während der Verhandlung zur Sprache kommt.
Die Rechtsanwält:innen verkündeten dann jedenfalls Zustimmung ohne Änderungswünsche, wollten aber gern die rechtsstaatswidrige Verfahrenverzögerung anmerken, die der Richter auch in den Tenor aufnehmen wollte, ansonsten sei das hier aber eigentlich nicht von Belang, da der Angeklagte ja nicht in U-Haft gewesen wäre. Soso. Der Angeklagte wurde nochmal darüber belehrt, was es mit so einer Verständigung auf sich hat, und dann hat auch er auch nochmal ausdrücklich zugestimmt. Die Rechtsanwältin hat sich dann zusammen mit ihrem Kollegen über die Hintergründe der Taten ausgelassen, die finanzielle Situation, die Umstände, das Bedauern und so weiter. Aber jedenfalls geständig.
Der Richter hatte in seiner kurzen Einarbeitungszeit offenbar genug Einblick gewonnen, um dann u.a. konkret zu der einen Firma nachzuhaken, in deren Abhängigkeit sich der Angeklagte da mit seinen Unternehmungen begeben habe, die wäre doch auch in den älteren Fällen in früheren Verhandlungen schon aufgetaucht, wieso sei da eine erneute Geschäftsbeziehung eingegangen worden? Und auch sonst fragte er jetzt leicht inquisitorisch nach, ob denn die Vorstrafen nicht gereicht hätten, und dozierte ein bisschen über die möglichen Reaktionen auf schlecht laufende Geschäfte und was der Angeklagte stattdessen getan habe. Der Rechtsanwalt versuchte daraufhin etwas stotternd, mit der schwierigen Lage, der Familie und den geschäftlichen Zwängen und den falschen Angaben der Auftraggeber zu argumentieren. Dann kamen nochmal die Einzelheiten der Verschleierungszahlungen zur Sprache, die sowohl die Bilanz verfälschen als auch die Arbeitsleitungen der Angestellten vertuschen sollten: Rechnungen und Überweisungen, die dann bar abgehoben und wieder zurückgegeben wurden. Und die Rechtsanwältin wies nochmal auf die ungenaue Berechnung der Schadenssummen hin, die ja zum Teil nur Schätzwerte sein können, die üblicherweise zu hoch angesetzt würden, und etwa bei der Schnee- und Eisbeseitigung je nach Winter in einigen Jahren auch sehr weit vom tatsächlichen Wert entfernt sein können. Zugegeben.
Detaillierte Abfrage der sozialen Hintergründe: geboren in den Vierzigern in Dresden, Schule und Ingenieur-Studium, nach der Wende sofort selbständig, Gebäudereinigung und ähnliches, jetzt Rente und kleine Nebentätigkeit, irgendwas mit Kontrolle, drei Stunden die Woche, zusammen tausend Euro im Monat, keine Rücklagen oder Vermögen. Und auf die süffisante Rückfrage des Richters: ja, die beiden Wahlanwälte seien tatsächlich gute Freunde, die das für umme machten. Erwachsene Kinder, allein zur Miete, gesundheitlich angeschlagen, dadurch zu 80% behindert, keine Drogen, kein Alkohol. Die schwache Stimme des Angeklagten bestätigte seine Krankheit, die Akustik im Saal zudem mal wieder besonders ungünstig, zumal die 105 auch zur Straße rausgeht und die LKWs und Straßenbahnen gut zu hören sind, auch bei geschlossenen Fenstern.
Da laut StPO auch ein Geständnis überprüft werden müsse, Beweiswürdigung und so, verlas der Richter eine lange Liste an Zeugenaussagen, wann hat wer ausgesagt und wo ist das in dem Aktenberg zu finden. Die Verlesung dieser Beweismittel wäre als Bestätigung des ohnehin erfolgten Geständnisses auch ohne Zustimmung des Angeklagten zulässig.
Nach kurzer Beratung wurde dann der Beschluss der Verständigung verkündet: die Fälle eins bis sechs, 40 bis 125 und 129 werden auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 154 StPO eingestellt, die Auslagen für die Fälle eins bis sechs trägt wegen der Verjährung die Staatskasse. (Hatte ich schon erwähnt, wie unglaublich schnell der Richter einige seiner Ansagen gemacht hat? Die Protokollführerin neben mir schaute mich zwischendurch immer wieder leicht amüsiert und ratlos an.) Der Staatsanwalt war mit der Verlesung der Zeugenaussagen nach § 251 StPO einverstanden, jetzt stellte sich aber raus, dass hier natürlich nicht was vorgelesen wird, lesen kann ja schließlich jeder selbst, wir sind ja hier nicht in der Unterhaltungsabteilung, und ich wurde gefragt, wie lange wir denn bräuchten zum Lesen dieses Papierstapels. Ich mutmaßte was von »ein Stündchen«, also wurde eine Pause von anderthalb Stunden anberaumt, viertel nach zwölwe ginge es dann weiter.
Und das Aktenstudium war dann nach anfänglichem Unwillen doch durchaus interessant und unterhaltsam: was die Angestellten, Auftraggeber, Kunden, Geschäftspartner und all die bulgarischen und türkischen Hilfskräfte da ausgesagt und was die Zollbeamten so alles festgestellt haben. Dazu die mehr als fünfzig DIN-A3-Blatt kleinster Schrift umfassenden Tabellen mit einzelnen Aufträgen aus den Jahren 2015 ff., zum Beispiel für die Reinigung einer Flüchtlingsunterkunft, da kommen schon irre Summen zusammen. Nach einer knappen Stunde war ich tatsächlich durch. Hat das an meinem Glauben an das Geständnis des Angeklagten was geändert? Eigentlich nicht. Aber es war schon eine handfeste Bestätigung, dass da wirklich und erstaunlich offensichtlich was faul war. Und nicht zuletzt eine weitere Bestätigung, dass mit all den neumodischen Unterauftragnehmerverhältnissen unnötig viele Unklarheiten in die Geschäftsbeziehungen und Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten kommen. Und die schamlose Ausbeutung der ausländischen Hilfskräfte, die von den Verträgen nichts verstehen, die sie da in die Hand gedrückt bekommen. Und was der Zoll da für mühselige Arbeit leistet: der hat ja den Großteil der Aktenmappen mit Daten gefüllt, Unterlagen gesichtet, Übersichten erstellt und allerlei zusammengefasst, was da auf weißichnicht wieviele Quellen verteilt war.
Nach der Pause war auf einmal eine andere Protokollführerin da, auch der jungsche Begleiter war nicht wiedergekommen, und der Rechtsanwalt hatte sich ja vorher schon verabschiedet, also nur noch die eine Rechtsanwältin da. Und kein Besucher mehr. Die Einordnung der einzelnen Taten zu den Einzelstrafen wurde nochmal korrigiert, da wäre wohl wer in der Zeile verrutscht, die Beisitzerin hätte den Richter aber auf den »redaktionellen Fehler« hingewiesen. An der Gesamtstrafe ändere das alles mithin nichts. Trotzdem erneute Abfrage aller Parteien, ob das Einverständnis in die Verständigung weiterbestehe. Verlesung des aktuellen Vorstrafenregisters, Insolvenzverschleppung, Beitragsvorenthaltung, Geldstrafen. Beweisaufnahme abgeschlossen.
Plädoyer Staatsanwalt: Verfahren langsam, warum auch immer, gesundheitliche Belastung, Vorstrafen, Schaden zum Nachteil der Allgemeinheit, fünfzig Tagessätze dafür, hundert dafür, acht Monate Freiheitsstrafe dafür, zusammen bitte knappe zwei Jahre Freiheitsstrafe, auf eine dreijährige Bewährungszeit auszusetzen, dazu die Einziehung der vorher nochmal nachgerechneten Schadenssumme von immer noch einer reichlichen halben Million. Die Rechtsanwältin schloss sich dem an, auch was das Strafmaß angeht. Der Angeklagte versuchte was zu sagen und nickte.
Wir haben mit unserem Urteil dann an dem Antrag im Grunde nichts geändert, wenn sich schon alle so schön einig sind, haben aber als Bewährungsauflage eine gemeinnützige Tätigkeit von 120 Stunden angeordnet, in den ersten zwölf Monaten abzuleisten. Irgendwas sollte er der Allgemeinheit schon zurückgeben, die Einziehung würde ja nichts ergeben, das Geld sei ja nicht in eine Villa am Stadtrand geflossen. Die Formulierung des Richters, mal ein-zwei Stündchen die Woche durch den Park zu spazieren und Kippen aufzusammeln, das würde der Angeklagte doch schaffen, fand ich ein bisschen daneben, aber er schob ja auch nach, dass man ein ärztliches Attest einreichen könne, wenn das wirklich nicht ginge. Zumal ich annehme, dass die Sozialstunden auch anders abgeleistet werden können, da wirds doch auch was im Sitzen geben, die konkrete Betätigung schreibt das Gericht ja auch gar nicht vor, dafür sind doch die Bewährungshelfer zuständig, oder wie oder was?
Der zweite kleine Wermutstropfen in der Urteilsverkündung und -begründung war in meinen Ohren die mir auch vorher schon ein oder zweimal aufgefallene Fokussierung auf das fortgeschrittene Alter des Angeklagten, im Grunde als Entlastungsargument gemeint, aber eben so formuliert, als wäre er vor allem deswegen schon halb im Grabe, und erst in zweiter Linie wegen der erheblich angeschlagenen Gesundheit. Weil meine Eltern im selben Alter sind? Vielleicht. Klang für mich jedenfalls irgendwie unpassend oder unangemessen. Sonst aber sehr eloquent, der Herr Richter, angenehm zuzuhören, logisch argumentierend und durchaus klar in seinen Ansagen und Forderungen. Dochdoch. Zum Abschied fragte er noch, ob wir als Schöffen der Abteilung fest zugeordnet wären, was ich zumindest bejahen konnte, offenbar sieht man sich also in Zukunft ab und zu wieder.