Der Richter war ganz erstaunt: vier Fälle hintereinander an einem Tag, wo alle vier Angeklagten einerseits noch komplett ohne Vorstrafen waren, andererseits dann aber gleich wegen Handels mit nicht geringen Mengen an harten Drogen vor Gericht gelandet sind. Wegen der fehlenden Vorstrafe kommt dann trotzdem regelmäßig eine Aussetzung der Haftstrafe zur Bewährung in Betracht. Die Haftstrafe beträgt aber mindestens ein Jahr. Wenn nicht ein minderschwerer Fall begründet werden kann. Hab ich mir das richtig gemerkt? (Alberne Terminologie eigentlich: es gibt geringe Mengen für den Eigenbedarf, normale Mengen, und darüber dann die nicht geringen Mengen.)
Sonst war aber alles beim alten. Ich bin ja jetzt schon eingewöhnt und kenne schon alles und wundere mich über überhaupt nichts mehr. Schade eigentlich. Die Straßenbahn war diesmal sogar noch schneller als nach Plan, ich war also schon mehr als eine halbe Stunde vorm ersten Termin da. Der Einlass durch die Justizbeamtin an der Sicherheitsschranke wieder ausnehmend freundlich, und wieder wurde mir genau erklärt, wo ich hin muss, so als wäre ich das erste Mal hier. Pffft. Der Beamte, der uns schließlich in den Saal ließ, hatte aber eine kleine Neuheit für uns: man kommt doch auch da ganz links auf die Richtertribüne, man muss sich gar nicht durch den engen Spalt da rechts zwängen. Und außerdem wäre da ganz rechts außen beim Staatsanwalt noch eine Tür in der Balustrade, die könne man auch aufklappen. Das erste hat Petra dann gleich so gemacht, das zweite hab ich später erfolglos probiert, ich wollte ja nicht allzu dolle dran herumdrücken, soll ja alles ganz bleiben, ging also nicht auf. Ein Riegel war nirgends zu sehen, die Scharniere bei näherer Betrachtung aber schon.
Erster Fall klassisches Kokstaxi, nicht geringe Menge knapp überschritten, die Staatsanwältin – wieder eine mir bis dato unbekannte, keine Ahnung, wieviele es in der Abteilung gibt – las etwas stotternd, man möchte meinen, die komischen Begrifflichkeiten und Aneinanderreihungen von Paragraphen wären ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen, aber vielleicht hatte sie ja auch einfach einen schlechten Tag oder hat’s halt generell nicht so mit dem Vorlesen, ist ja auch egal und macht mir ja die Leute im Zweifelsfall eher sympathischer. Der Rechtsanwalt machte die sogenannten Einlassungen, es gab ein Geständnis, der Angeklagte habe aber im Auftrag anderer gehandelt, und natürlich verzichte er auf die Restsubstanzen genauso wie auf die eingezogenen Handys und das mitgeführte Geld. Keine Ausbildung, kein Beruf, aber auch kein Konsum, verheiratet und mit Stieftochter, möchte er wohl demnächst als Chauffeur arbeiten, seine Tätigkeit quasi zum ordentlichen Beruf machen, aber konkret ist natürlich noch nichts. Die Akustik des Saals und die Verschnupftheit einiger Beteiligter hat die Kommunikation an manchen Stellen mal wieder schwieriger gemacht als nötig, das offene Fenster zum Hof und die lauten Tastaturanschläge der Protokollantin sind da auch nicht wirklich hilfreich gewesen. Für eine Einstufung als Beihilfe zum Handel war das jedenfalls alles zu unkonkret, aus diesem Grund kam kein minderschwerer Fall in Betracht, da aber keine Vorstrafen vorhanden waren und die Grenze zur nicht geringen Menge nur knapp überschritten wurde, forderte die Staatsanwältin weniger als ein Jahr Haft, ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung, keine weiteren Auflagen. Das sah der Rechtsanwalt im Grunde genauso, und wir Richter haben dann keine weiteren Sperenzchen gemacht, die Anwälte daraufhin keinen Einspruch eingelegt, das Urteil ist rechtskräftig, fertig. Die Staatsanwältin wünschte dem Rechtsanwalt noch gute Besserung, er ihr gute Fahrt. Wohin?
Zweiter Fall mit dubiosem Paket aus Kalifornien und folgender Hausdurchsuchung. Ein Fachinformatiker mit einer erkleckrigen Menge an Amphetaminen und Kokain und Haschisch und Tabletten. Die Wirkstoffmenge einer Substanz wurde vom Rechtsanwalt nach der Anklageverlesung nochmal korrigiert, es blieb aber beim hundertfachen der nicht geringen Menge, das ist schon happig. Es lag aber auch hier ein Geständnis vor, zudem hätte die eine Nacht in Untersuchungshaft den Angeklagten so nachhaltig traumatisiert (so die wiederholte Wortwahl), dass er ganz gewiss nie wieder mit Drogen in Kontakt kommen werde. Der übliche Verzicht auf die eingezogenen Restsubstanzen, das Geld und die Handys natürlich inbegriffen. Drogenkonsum seit er erwachsen ist, zur Tatzeit täglich, seit der Haft aber gar nicht mehr. Entzugserscheinungen keine, zum einen wegen des Schocks der Untersuchungshaft, zum anderen hilft ihm wohl der Sport. Der geladene Zeuge wurde wegen des Geständnisses nicht mehr benötigt und durfte gehen. Die Fotos aus der Hausdurchsuchung hatten wir Schöffen schon vorher im Beratungszimmer gesehen, Staatsanwältin und Rechtsanwalt kannten sie auch schon aus den Akten, also wurden nur die Gutachten zu den Drogen verlesen, 57 einzeln durchnummerierte Posten zu weißen Pulvern, Pflanzenmaterial und gepresster Masse mit Gewicht und Wirkstoffgehalt, das nahm fast gar kein Ende. Die Staatsanwältin forderte dafür etwas mehr als ein Jahr Haft auf drei Jahre Bewährung, der Rechtsanwalt meinte, wegen der guten Sozialprognose würden ja wohl auch zwei Jahre Bewährung ausreichen, zumal der Fall schon wieder mehr als ein Jahr zurückliege. Wir Richter schlossen uns dem Rechtsanwalt an, das Urteil wurde angenommen, fertig. Pause.
Ich bin ein bisschen im Haus herumgelaufen, all die verwinkelten Treppen hoch und runter, nochmal die Figuren auf der Galerie im ersten Stock genauer anschauen, und dort oben habe ich auch die Treppe gefunden, die wieder nach unten und zu der hinteren Tür führt, die wohl eigentlich für die Besucher des Saals 138 gedacht ist, aber eben vom Erdgeschoss aus gar nicht zu erreichen ist: die Treppe endet unterhalb dieser Tür unvermittelt in einer Wand, da wurde der Gang aus irgendwelchen Gründen einfach zugemauert. Hat der Saal-Beamte ganz schön geguckt, als da auf einmal jemand reinkam.
Dritter Fall wieder sogenanntes Kokstaxi. Bei der Hausdurchsuchung (mit -durch- oder ohne?) wurde auch ein Teleskopschlagstock gefunden, was die Frage nach einer Strafverschärfung nach Paragraph hastenichgesehen aufwarf. Jetzt mit neuem Staatsanwalt. Ein Mann. Ein junger. Wollte aber Petra nicht per Handschlag grüßen, weil er erkältet sei. Die Krankheit wolle sie nicht haben. Mit ihrer offenen, einladenden Art stößt sie im Gerichtsgebäude wohl ohnehin immer wieder auf Unverständnis und Ablehnung, sagt sie. Ich kann das einerseits zwar durchaus verstehen, sowohl menschlich als auch sicherheitstechnisch, habe sie aber trotzdem in der Meinung bekräftigt, sich davon nicht weiter beeindrucken zu lassen. Aber zurück zum Fall. Für den Rechtsanwalt war der Zusammenhang zwischen den im Auto gefundenen Drogen und dem zu Hause liegenden Schlagstock nicht gegeben, der Paragraph 30a also Quatsch. Zudem habe der Angeklagte gar nicht mit Drogen gehandelt, sondern habe sie nur transportiert, eine Tasche zu einer Party, die andere zu einem Versteck. Und natürlich auf Anweisung dritter. (Über die freilich keine Angaben gemacht wurden, aber das scheint auch niemand zu erwarten.) Dass er auf dem Weg noch einen Kunden direkt mit einer geringen Menge versorgt hat, war ganz spontan zustandegekommen und gar nicht der ursprüngliche Auftrag. Und die geringe Menge zu Hause sei für seine Besucher, er selber nehme gar keine Drogen. Statt Handel kam also durchaus Beihilfe zum Handel in Betracht. Der Staatsanwalt fand die Konstruktion mit § 30a auch eher sportlich, der mitgeführte hohe Handelserlös spräche aber gegen eine reine Verbringung, Beihilfe ja, aber wegen der Menge kein minderschwerer Fall, und das mit der in Aussicht stehenden Arbeit hätte er auch schon so oft gehört, dabei sei da einer seit zehn Jahren arbeitslos, aber kaum sitze er in der Hauptverhandlung, habe er etwas in Aussicht, nur konkret sei dann eben trotzdem noch nichts. Ein reichliches Jahr, gern auf Bewährung, zwei oder drei Jahre egal, aber weniger wäre lächerlich. Der Rechtsanwalt wies nochmal auf das Handeln unter Anweisung hin und forderte auf jeden Fall zwei Jahre Bewährung. Wir Richter haben uns auf einen Monat unterhalb der Forderung des Staatsanwalts geeinigt, ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung. Der Staatsanwalt wollte keine Berufung einlegen, weil er nur als Vertretung da war und wohl auch erst auf Probe, der Rechtsanwalt wollte von sich aus auch keine Rechtsmittel einlegen, weil er erst auf die Reaktion der Staatsanwaltschaft warten wolle. Lange Pause.
Petra und ich sind in das Café auf der anderen Straßenseite gegangen, da musste sie nicht so weit laufen wie bis zur Cafeteria im Haus C. Oder war’s Haus D? Diesmal hat sie mir einen Kaffee bezahlt, weil ich gar kein Bargeld dabeihatte. Vielleicht laden wir uns ab jetzt einfach immer abwechselnd gegenseitig ein? Die Sonne hat ganz schön gebrezelt, die Schattenplätze waren alle besetzt, wir sind also beizeiten wieder zurückgeseppelt.
Der vierter Fall enthielt eigentlich zwei Fälle, einmal Cannabis-Anbau in einer Indoor-Plantage, 60 Pflanzen in einer Garage und 27 zu Hause, das zweite mal wieder etliche Pflanzen in derselben Garage, aber zusätzlich noch einiges an Amphetamin und Kokain. Es lag wieder ein Geständnis vor, der Rechtsanwalt beantragte aber die Einstellung der ersten Tat, weil nach neuem Gesetz keine Straftat mehr, sondern nur noch Vergehen, wir Richter haben dem nach kurzer Beratung zugestimmt. Der Staatsanwalt freute sich über die Mitteilung, der Angeklagte sei inzwischen in Lohn und Brot, einen Arbeitsvertrag und ein Arbeitszeugnis hatte der Rechtsanwalt sogar auch noch mitgebracht. Konsum von Gras seit der Jugend, später auch Amphetamin und Kokain, Cannabis auch immer noch, die harten Drogen aber seit der Verhaftung im letzten Jahr nicht mehr. (Der zweite Fall im November 2023 liegt noch gar nicht so lange zurück wie in den anderen Verhandlungen bisher – da es eine Verhaftung gab, wurden hier die Labor-Gutachten beschleunigt, die wohl üblicherweise für diese Verzögerung sorgen.) Auch eine Therapie wurde nachweislich schon angebahnt, die Übernahme der Kosten durch einen Träger stand aber noch nicht endgültig fest. Der Staatsanwalt forderte also anderthalb Jahre Haft, wegen fehlender Vorstrafen auszusetzen auf Bewährung, diese sollte aber wegen des fortlaufenden Konsums lieber drei als nur zwei Jahre betragen. Der Rechtsanwalt war mit der (anwesenden) Familie des Angeklagten bekannt und bekräftigte nochmal die augenscheinlich eingetretene Arschtritt-Wirkung der Verhaftung und schloss sich den Forderungen an. Auch der Angeklagte selbst äußerte sich diesmal mit eigenen Worten und bestätigte ganz bedrückt, dass er nun gewillt sei, sich zu bessern. Wir Richter haben ihnen allen also den Gefallen getan und am Strafmaß nichts weiter geändert. Das Urteil wurde angenommen und ist rechtskräftig. Fertig für heute.
Aber sag mal: Fordern Rechtsanwälte nicht normalerweise viel niedrigere Strafen als die Staatsanwälte? Die wollen doch das beste für ihren Klienten. Hier schließen sie sich immer den Forderungen der Staatsanwält:innen an oder formulieren ganz nebulös, dass sie die Strafbemessung dem (hohen?) Gericht überlassen. Wem denn auch sonst? Da haben wir doch gar nichts zu tun im geheimen Hinterzimmer.
Petra hat dem erkälteten Staatsanwalt noch ein paar Lutschbonbons geschenkt, der Richter hat sich wieder bei uns für die Zusammenarbeit bedankt, das hat er auch letztes Mal schon gemacht. Nur beim ersten Mal noch nicht, oder? Das war aber sowieso nicht sein Tag, oder war das Strategie, den Schöffen erstmal klipp und klar klarzumachen, wer hier das Sagen hat? Beim Warten auf die Straßenbahn haben Petra und ich noch kurz über Motorräder gefachsimpelt, da hatte sie wohl schon die eine oder andere dicke Maschine, gegen die ich mit meiner popeligen 250er MZ nicht anstinken konnte. Wobei, so’n Honda-Joghurtbecher ist ja auch nix zum wirklich stolz drauf sein.