Die Ladung für den heutigen Termin kam übrigens das erste Mal nicht per Brief, sondern per E-Mail. Digitalisierung! Angehängt als PDF die üblichen vier Dokumente: die Ladung, der Antrag auf Entschädigung, die Bescheinigung über Verdienstausfall und das Empfangsbekenntnis. Falls sich das wer ausdrucken möchte. Oder so. Den Empfang hab ich wie immer per E-Mail bestätigt, und das Ladungs-PDF konnte ich heute der wie immer netten älteren Beamtin am Einlass auch direkt auf meinem Handybildschirm vor die Nase halten, sie hat dann ein bisschen drin herumgezoomt und -gescrollt, um die Verfahrensnummer mit ihrer Liste und den Namen mit meinem Ausweis abzugleichen, und mir daraufhin mitgeteilt, dass der Termin heute in der 217 stattfände, dort rechts der zweite Gang die erste Tür. Danke! Das Gewusel im proppevollen Eingangsbereich hat sie offenbar nicht weiter beeindruckt, da war wohl wieder ein aufsehenerregender Prozess angesetzt, vielleicht sind wir deswegen in einen anderen Saal umgetopft worden? Die andere Schöffin hatte auch irgendwas im Radio gehört heute früh, konnte sich aber nicht mehr konkret erinnern. (Das Internet hat mir bis jetzt auch nichts verraten.)
Ich bin dann erstmal hintergeseppelt zur Berechnungsstelle, meine Anträge vom letzten Mal einwerfen. Und hab diesmal wenigstens auf dem Rückweg die Abkürzung durch den Gang genommen, der direkt am Briefkasten der Berechnungsstelle endet, man muss nämlich gar nicht erst ganz nach hinten und dann zweimal um die Ecke, ist ja logisch, man kann auch schon in den ersten Gang abbiegen, da wo die komischen kleinen Treppen sind und der halb abgetrennte Aufenthaltsraum, und dann kommt man direkt an der richtigen Stelle raus. Könnte eigentlich mal jemand ausschildern, oder?
Dann tauchte noch ein ich-vermute-mal Anwalt auf und setzte sich auf die Nachbarbank, und später tauchte eine blonde Dame auf, die vermut-ich-mal die Staatsanwaltschaft vertritt und erstmal an der Tür rüttelte, ob denn schon offen wäre. Da konnte der Anwalt gleich erzählen, dass es das schon gab, dass alle vor der Tür gewartet haben und es schon voll wurde und dann stellte sich erst kurz vor Beginn heraus, dass die längst aufgeschlossen war, nur halt zugeklappt. Sachen gibts! Ein junger Typi in Zivil hat uns den Saal schließlich aufgeschlossen, das war gar kein un-uniformierter Beamter, sondern der Protokollführer, wie sich herausstellen sollte. Der Saal sah im Grunde genauso aus wie die anderen hier (im Gebäude A im Erdgeschoss) auch, die Richterbank rechterhand, die Decke einfarbig weiß mit Stuck, die Kronleuchter in der simplen Messingausführung mit den zylindrischen weiß opaken Glasleuchten. Der Beratungsraum etwas neuer und einheitlicher eingerichtet, alles gut geheizt, die Staatsanwältin hat nach Rücksprache gleich erstmal ein Fenster geöffnet.
Das nun schon bekannte Paar aus Beisitzerin und Richter tauchte dann auch gleich auf und kündigte schonmal an, dass der Angeklagte wohl nicht erscheinen werde. Er wohne gerade in einer Aufnahmeeinrichtung und sei da schön länger nicht mehr gesehen worden, die Zeugen seien auch schon alle vorsorglich abgeladen worden. Konkret ging es um Arzneimittelhandel, irgendwelche Opiate und Epilepsie-Mittelchen, sieben Taten in einem engen Zeitrahmen gegen Ende des letzten Jahres. Junger Typ aus Gaza, keine Vorstrafen, aber offenbar unbotmäßiges Benehmen, aus einer Erstaufnahmeeinrichtung sei er schon hinausgeflogen, und die aktuelle Einrichtung will ihn auch gern wieder loswerden. Möglicherweise eigene Medikamentensucht.
Abwägungen über einen möglichen Strafbefehl. Das geht aber nur bei Geldstrafen oder einer Haftstrafe von maximal einem Jahr, das sei jedoch bei Berücksichtigung von diesem oder jenem durchaus möglich. Wenn denn die Staatsanwältin mitspielt. Schaumerma!
Der Protokollant musste auch nochmal aufrufen (in den Gang hineinrufen, dass die Verhandlung jetzt losgehen soll), weil kein Beamter da war, es kam aber keiner mehr rein. Außer dem Anwalt saß da zwar schon noch einer, das war aber ein älterer Herr, konnte also nicht der Angeklagte sein. Ein Dolmetscher? Hab ich bis zum Ende nicht erfahren, hab aber auch niemanden gefragt. Auf dem Richterpult übrigens vier große Monitore, die mit einem knickbaren Fuß so flach hingelegt wurden, dass das ganze fast nach Laptops aussah. Dazu Tastaturen mit Kartenleser, offenbar kann/muss man sich hier auch mit so Chipkarten authentifizieren wie in Arztpraxen. Kommt mir sinnvoll vor. Und dazwischen ein ganz kleiner Monitor, der fand die helle Begeisterung des Richters, aber vor allem dahingehend, dass all die älteren Kollegen hier am Amtsgericht damit ganz bestimmt überfordert wären. Wegen der kleinen Schrift? So klein war die gar nicht. Das Ding offenbar eine Steuerung für all die Monitore, vermutlich konnte man damit u.a. die Quelle für den an der Wand hinter dem Richterpult hängenden noch größeren Bildschirm anwählen.
Der Richter hat dann nochmal die Akten konsultiert, ob denn der Angeklagte auch ordnungsgemäß geladen worden sei, ja, sogar die Leitung der Einrichtung hätte nochmal eine E-Mail bekommen. Dann hat er den Anwesenden den Vorschlag mit dem Strafbefehl erläutert. Der Strafrahmen für Handel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten ginge von Geldstrafe bis zu drei Jahren Haft, er ginge im aktuellen Fall aber von Einzelstrafen zu jeweils sechs Monaten aus, zusammengefasst zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, auszusetzen auf eine Bewährung von drei bis vier Jahren, versehen mit einer zusätzlichen Auflage von zum Beispiel 120 Stunden unbezahlter Sozialarbeit.
Die Staatsanwältin konnte sich damit nicht einverstanden erklären: das mit der eigenen Abhängigkeit sei nach Aktenlage doch sehr fraglich, und selbst bei einem Geständnis wäre es bei den Mengen an Tabletten und der breiten Palette des Angebots und bei den zusätzlich gehandelten Drogen und der offenbaren Wirkungslosigkeit des Erwischtwerdens (zweimal am selben Tag) kaum möglich, auf eine Gesamtstrafe von nur einem Jahr zu kommen. Der Richter hat dann noch ein bisschen schräg mit der Unkenntnis des deutschen Rechtssystems und der vermuteten Strafe in Gaza (Hand ab!) argumentiert, aber im Grunde war der Strafbefehl damit vom Tisch. Einstellung nach § 205 wäre auch denkbar, aber das wurde wohl nur der Form halber erwähnt.
Da die Staatsanwältin nur in Vertretung da war, hat der Richter sich mit ihrer Erlaubnis nochmal kurz ans Telefon gesetzt und sich erkundigt, was denn die eigentlich verfahrensführende Person bei der Staatsanwaltschaft für eine Meinung dazu habe. Die hat auf seine Einlassungen recht verärgert reagiert, wie er leicht amüsiert resümierte, auch auf diesem Wege also keine Einigung auf das niedrige Strafmaß und das prozessökonomisch schnelle Ende, stattdessen vorläufige Einstellung bzw. Aussetzung des Verfahrens, der Angeklagte wird nun per Haftbefehl gesucht und kommt in U-Haft, bis ein neuer Termin für seine Verhandlung festgelegt und diese dann stattgefunden hat.
Halbe Stunde um, und schon wieder ab nach Hause! Die Mitschöffin vermutete noch fix, das sei ja jetzt bestimmt der letzte Termin des Jahres gewesen, frohes Fest und guten Rutsch schonmal. Ein späterer Blick in meinen Handykalender offenbarte mir aber den noch vorgemerkten, im Grunde ja monatlichen Termin Mitte Dezember, aber da war sie schon auf dem Weg zur U-Bahn und ich an der Haltestelle der Straßenbahn. Na werden wir ja sehen, ob der Termin stattfindet. Im Eingangsbereich übrigens kaum noch Leute, aber vor dem Gebäude auf dem Fußweg noch eine Kamera und eine Tageslichtleuchte, des nieseligen Wetters wegen schön regendicht eingepackt in Plastefolie, aber kein Mensch in der Nähe.
Im übrigen habe ich gestern schon die Termine für das nächste Jahr mitgeteilt bekommen, das kam wieder ordentlich altmodisch per Briefpost. Offenbar bleibe ich in der Abteilung 213, kann ja schließlich sein, dass das Los zweimal hintereinander auf dieselbe Zahl fällt, und offenbar denkt jemand in der Terminplanung, dass zwischen Weihnachten und Silvester irgendjemand vor Gericht erscheint. Ich überleg noch, ob ich da schonmal vorsorglich Urlaub anmelde, oder ob ich davon ausgehe, dass da eh nicht geladen werden wird. Und ich notfalls erst auf die Ladung hin kurzfristig den Urlaub rückmelde.