Jetzt hab ich also auch meinen kleinen Nazi-Opa-Skandal. Bislang bin ich ja drumrum gekommen um die klischeehaften Kriegsanekdoten der Großväter, weil der eine Opa zu jung und der andere als Chemiker im Hinterland (Bei der Produktion [1] von Giftgas? Ich weiß es nicht mit Sicherheit.) kriegswichtig tätig war. Zudem ist der eine gestorben, bevor ich in das Alter kam zu fragen, und beim anderen kam es irgendwie auch nie dazu. Er hat uns immerzu fotografiert, aber gesprochen hat er mit uns Enkeln kaum, über die Nazizeit schon mal gar nicht. Nur meine Omas haben ab und zu auch ungefragt einen Schwank aus dem BDM-Nähkästchen oder von der Flucht aus Schlesien erzählt.
Aber da ist ja noch der Vater des zu jungen Opas.
Und über den erschien nun also letzte Woche in der Mitteldeutschen Zeitung ein Artikel über »schwere Vorwürfe gegen Günther Adolphi«: das war mein Urgroßvater, ein international anerkannter Chemiker und Verfahrenstechniker, nach dem sie vor einiger Zeit eine kleine Straße auf dem Hochschulgelände in Merseburg benannt haben. Und nun sind Papiere aus Auschwitz aufgetaucht, die seine Unterschrift [2] tragen, was natürlich diese Straßenwidmung infrage stellen soll.
Laut dem Zeitungs-Artikel hat ein Hobbyhistoriker aus der Merseburger Gegend, ein ehemaliger Soldat mit Afghanistan-Erfahrung, der auch Museumsführungen im militärhistorischen Kontext veranstaltet und Teil einer Reservisten-Kameradschaft ist, durch einen Dachbodenfund einen Zettel in die Hand gekriegt, der aus Auschwitz stammt und die Unterschrift »Adolphi« trägt. Das fiel ihm dann ein, als er von der Straßenbenennung erfuhr, und sah seine Stunde gekommen, in der Öffentlichkeit als Aufklärer wahrgenommen zu werden.
Es wird auch auf einen echten Historikers hingewiesen, der sich unter anderem relativierend an der Kriegsschuld-Debatte zum 1. Weltkrieg beteiligt, und der vor einigen Jahren in seiner Habilitationsschrift die Biografien von Chemikern untersuchte, die erst unter den Nazis und dann in der DDR Karriere gemacht haben; ein Kapitel ist dabei meinem Urgroßvater gewidmet und deckt unter anderem auf, dass er im Außenlager III [3] als Ingenieur tätig war. Dabei stützt er sich nicht nur auf Aussagen von ehemaligen Kollegen, sondern auch auf Inhalte der Stasi-Akten seines Sohnes (meines Großvaters?).
Die Hochschule und die Stadt Merseburg reagierten wohl zunächst überrascht und bemängeln »fehlerhafte« Recherche, wollen aber prüfen. Die Vermutung jedoch, der auf dem Papier aufgetauchte Adolphi sei gar nicht Ehrenprofessor Günther, sondern sein Sohn Hans Velten (mein Großonkel, ein ebenfalls in entsprechenden Kreisen wohlbekannter Chemiker, der mit seinem Vater zusammen veröffentlicht hat; sie waren als »Vater und Sohn« bekannt) gewesen, muss anhand der Geburtsdaten auch ohne nähere Prüfung sofort als völlig abwegig erscheinen: Günther war Anfang vierzig, seine Söhne noch im Schuljungenalter, siehe oben.
Was mich an der ganzen Angelegenheit vor allem stutzig macht: ich wusste längst davon und dachte, es sei allgemein bekannt. Es steht schließlich in seinen Lebenserinnerungen, die als kopierte DIN-A5-Heftchen in der Sippe kursieren. Aber offensichtlich nur da. Hat aber einer der Historiker bei den sehr zahlreichen Nachfahren nachgefragt? Soweit ich weiß nicht. In diesen Memoiren jedenfalls berichtet er – nicht übermäßig ausführlich, aber doch zum Teil recht detailliert – auch über das Kapitel Auschwitz. Dort war er über längere Zeit tätig, war unter der Gesamtleitung von Dürrfeld als Ingenieur in der Planung der Anlagen involviert, beim Aufbau für seine Hochdruckanlage dabei und schließlich als Leiter der Methanolsynthese auch während des Betriebs vor Ort. Beinahe wäre sogar die junge Familie nachgekommen, die Wohnung wurde nur nicht rechtzeitig fertig, und ein Sohn (mein Opa) steckte bereits in der Nähe in einer Ausbildung. Unvorstellbar, dass das nicht in seinem Lebenslauf aufgetaucht und einem weiteren Bekanntenkreis bekannt gewesen sein soll.
»1943 ging ich nach Auschwitz. Ein weites, freies Gelände von mehr als vier Kilometern Länge und anderthalb Kilometern Breite, mit einem Stacheldrahtzaun umgeben, lag vor uns. Darauf sollte das Werk gebaut werden. Einige Stahlgerüste standen schon. An vielen Stellen wurden noch zehn Meter lange Betonpfähle in den Boden gerammt! Der Boden war unzuverlässig, wie sich herausgestellt hatte, und mußte befestigt werden. Es wurde fieberhaft gearbeitet. Die Bauten wuchsen allmählich aus der Erde. Die Arbeitskräfte waren zusammengewürfelt. Meister und einige erfahrene Schlosser wurden aus den IG-Werken gestellt. Dazu kamen Polen, Zwangsarbeiter aus der Ukraine, englische Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Ich hatte außer den Monteuren der Firmen etwa 150 Mann für meine Anlage und einen guten Obermeister aus Leuna, den Wegener, und vier Ingenieure. Morgens kamen die Trupps durch die Tore im Stacheldrahtzaun hereinmarschiert. Die Tore wurden militärisch bewacht, damit keiner auskneifen kann. Die Engländer in Uniform mit ihrem schnellen Gleichschritt, gut genährt durch die Pakete, die ihnen ständig von zu Hause zugeschickt wurden, traten auf, als wenn sie die Herren der Welt wären. Die KZ-Häftlinge, abgemagert, in ihren gestreiften, dünnen Mäntelchen im Winter – eine Jammerkolonne. Es kam vor, daß einer am Abend erfroren von seinen Kameraden auf Brettern ins Lager getragen wurde. Die Polen und Russen trugen Gleichmut zur Schau. Ein gespanntes Arbeitsklima. Aber irgendwie mußte es gehen.«
Und was mich jetzt, während ich darüber schreibe, ebenfalls wundert: ich habe es bislang nicht für einen Skandal gehalten. Eigentlich wollte ich also jetzt sowas schreiben wie: Na und? Er hat da halt als Chemiker und Ingenieur gearbeitet, das war halt zufällig in der Nähe von dem berühmten KZ, aber er hat ja die Juden nicht eigenhändig vergast, er hat da ganz normal gearbeitet, das war seine Arbeitsstelle, das war damals eben so. Was war da schon dabei. Jeder, der zu der Zeit in Deutschland gelebt hat, bekam von der NS-Diktatur einen Stempel in seine Biografie gedrückt, den möchte ich sehen, der da mit weißer Weste davongekommen ist. Die Politik hat alle Bereiche des Lebens durchdrungen, man konnte ihr nicht entkommen.
Was natürlich so nicht stimmt. Die Verbindung der IG Farben mit der NS-Führung war außergewöhnlich, das Lager III gab es nur für dieses Werk und war in der Form nur durch die enge Kooperation mit der SS möglich, und dass die Häftlinge dort unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen bis zur tödlichen Erschöpfung arbeiten mussten, wusste er. Und tat nichts dagegen. Er war als Unterabteilungsleiter durchaus Teil der Chefetage des Werkes und somit auch in gewissem Maße mitverantwortlich, da beißt die Maus keinen Faden ab. Seine Chefs ein oder zwei Etagen über ihm wurden bei den IG-Farben-Prozessen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Aber klar, andererseits: was hätte er schon tun können? Als einzelner? Was hätte er lassen können? Was hatte er für Alternativen? Hätte ja auch was anderes machen können, Frontsoldat zum Beispiel, Kommunisten abschießen, diese Schiene? Schwierige Fragen, über die man heute leicht moralisieren kann. Er hat sich und seine Familie (Die Kinder! Denkt denn niemand an die Kinder?) heil durch den Krieg gebracht, Glück gehabt, sich selbst wahrscheinlich nicht die Finger schmutzig gemacht, nicht schmutzig machen müssen.
»Der Kapo Schönfeld war Ingenieur bei Henschel in Kassel gewesen und ins KZ gekommen, weil er einer Judenfamilie zur Flucht verholfen hatte. Wir beschäftigten ihn manchmal im Büro und gaben ihm Ingenieurarbeit. Dieser Schönfeld kam zu mir mit der Bitte, ich möchte mich bei der SS-Lagerkommandantur verwenden, daß er sich lange Haare wachsen lassen dürfte. (Die ganz kurz rasierten Haare kennzeichneten den Häftling.) Als ich mal bei der SS zu tun hatte, habe ich das nebenbei vorgebracht, ohne Stellung dazu zu nehmen. Es wurde abgelehnt. Ein paar Monate später kamen mein Obermeister und drei Ingenieure zu mir und berichteten, der Schönfeld hätte einen Zivilanzug und Geld in seinem Schrank, offensichtlich Vorbereitungen zur Flucht. ›Sollen wir das melden?‹ fragten sie. Unter den vieren, die vor mir standen, war Wesselmann SS-Angehöriger. Sauermann war ein unsicherer Kadette. Krönhoff war ausgesprochener Antinazi, und Obermeister Wegener war wohl derjenige, der die Sache aufgedeckt hatte. Wenn wir es nicht meldeten und einer von den vieren hielt nicht dicht, dann kam ich mit den anderen dreien ins KZ. Aber durch unsere Meldung den Schönfeld in die Gaskammer bringen, das ging nicht an. Ich sagte: ›Wir melden es nicht und nehmen ihm die Sachen weg.‹ Ich verließ mich auf meine Männer. Zwei Wochen später sah unser Werkstattleiter Timpel den Schönfeld in Zivil auf das Werkstor zuschreiten und verschwinden. […] Der Schönfeld ist durchgekommen, wie ich später erfuhr.«
Nun steht aber mit der Art und Weise der Enthüllungen und den reißerischen Formulierungen der Zeitungsartikel die Behauptung im Raum, mein Urgroßvater sei ein Nazi- oder Kriegs-Verbrecher oder doch zumindest so tief im nationalsozialistischen System verstrickt gewesen, dass man nach ihm keine ordentliche deutsche Straße benennen darf. »Sollte sich dabei herausstellen, dass an den Vorwürfen etwas dran ist, werde ich dem Stadtrat die umgehende Entwidmung vorschlagen«, sagt der CDU-Bürgermeister. Was sollte er auch sonst sagen? Aber wäre das angemessen? Ich bin mir da nicht so sicher.
Denn ein Nazi war mein Urgroßvater nicht. Jedenfalls kein richtiger strammer. (Ich verlass mich da jetzt auf seine Aufzeichnungen, in denen er immer wieder auf die Politik und seine damalige Wahrnehmung der Zusammenhänge zu sprechen kommt. Ich selbst kannte ihn ja kaum, er ist achtzigjährig gestorben, als ich in die Schule kam, erinnern kann ich mich im Grunde nur an eine kurze Begegnung beim österlichen Eierrollen hinter seinem Haus in Merseburg.) Hatte er anfangs durchaus noch mit der NSDAP und ihrer Politik sympathisiert, erkannte er doch beizeiten den »skrupellosen Volksbetrug«. Als kulturvoller und in der Welt herumgekommener Mensch ertrug er weder den »Rassenwahn« noch die »schmalzige Propaganda« oder die »sinnlose Judenverfolgung«. Aber patriotische, völkische und nationalistische Töne stimmt er immer wieder an, siehe auch oben. Das lässt sich mit dem damaligen Zeitgeist, insbesondere auch mit seiner Herkunft aus der privilegierten deutschen Minderheit in Lettland erklären. Sonst hat er sich jedoch im Grunde rausgehalten aus der Politik, hat die Nazis machen lassen und sich seinen eigenen Weg gesucht, hat seine Arbeit gemacht, die mit Politik scheinbar nichts zu tun hatte – sich arrangiert, so sagt man das doch üblicherweise.
»In meinen Privatleben in Auschwitz ließ ich mich durch diesen ganzen Irrsinn nicht aus der Ruhe bringen. In jeder Mittagspause ging ich nach Hause und legte mich für eine halbe Stunde hin. Man mußte seine Nerven beisammen halten.«
Aber die Frage ist ja vor allem: reicht das alles aus, um den geachteten und renommierten Wissenschaftler in den Dreck zu ziehen und ihm die Würde einer kleinen unbedeutenden Campus-Straße abzuerkennen? Hat er von den Umständen damals profitiert? Hat er persönliche Vorteile daraus gezogen? Hat er andere ausgenutzt, jemandem geschadet? Hat er Entscheidungen getroffen, die andere ins Verderben gestürzt haben? Sind durch ihn Menschen umgekommen? Ich bin ja durchaus ein Freund von Nestbeschmutzung und Vaterlandsverrat, nichts liegt mir ferner als Loyalität und Patriotismus, die Demut kann mich mal, da interessiert mich auch keine Familienangehörigkeit, Wahrhaftigkeit und Antifaschismus sind mir da viel wichtiger, aber Augenmaß und Verhältnismäßigkeit sind mir auch keine Fremdwörter. Nach dem glühenden Antisemiten Martin Luther ist alles mögliche benannt, und es stößt sich keiner dran. Okay, schlechter Stil.
Vorwerfen kann und muss man meinem Uropa sicherlich, dass er in der Öffentlichkeit nicht nur nicht über seine Auschwitzer Vergangenheit gesprochen hat, sondern offenbar sogar geleugnet hat, davon gewusst zu haben, obwohl er doch als wie kleines und weiches Rädchen auch immer an der Vernichtungsmaschinerie beteiligt gewesen war. Spätestens nach Ende seiner beruflichen Tätigkeit hätte das drin sein müssen. Für weitergehende Vorwürfe fehlt es mir aber an beweiskräftigem Material. Kritische Auseinandersetzung gern, unbedingt sogar, da muss nichts beschönigt oder reingewaschen werden, wer Dreck am Stecken hat, soll ihn ruhig herzeigen, für eine Beurteilung muss man dann halt noch den jeweiligen Kontext und die weiteren Facetten der Persönlichkeit heranziehen. Oder auch nicht. Skandalgewitter mit baumelnden Vermutungen ohne Hand und Fuß aber, ausgerechnet aus der militaristischen und revisionistischen Ecke: nee danke.
JOpa am 17. März 2015
Am stärksten berühren mich Deine Worte zu den Kindern: »Hat denn niemand an die Kinder gedacht?«
Wenn man jetzt die Familienfotos von drei seiner vier Kinder sieht und den ehemaligen Freundeskreis der unverheirateten Tochter, potenziert sich das alles naturgemäß.
Danke.
»I hope the Russians love their children too.«
Aber unsere Verteidigungsministerin hat ja auch viele …
Krischan am 17. März 2015
Und es geht los mit den Korrekturen:
[1] Mein anderer Opa hat nicht Giftgas produziert, sondern »nur« daran geforscht. Wobei er wohl auch nicht wusste, woran genau er da arbeitet.
[2] Der handschriftliche Name auf dem Auschwitz-Papier ist keine Unterschrift, sondern ein Weiterleitungsvermerk.
baoma am 17. März 2015
der andere opa wusste offenbar ziemlich genau, was er da machte, er entwickelte nervengase, aber es war krieg. die möglichkeiten für männer im besten wehrfähigen alter waren sehr beschränkt. und du hast ja recht, andere soldaten totschießen war legitim, auch aus heutiger sicht.
Asiatica am 17. März 2015
G.A. hat nicht »im Außenlager III« gearbeitet, sondern im IG-Farben-Chemiewerk »Buna IV«. Beides liegt am Ostrand von Auschwitz. »Außenlager III« war das KZ Monowitz. Der Zusammenhang ist, dass dieses KZ von der IG Farben eigens dafür errichtet worden war, dass es billige Arbeitskräfte für die Errichtung von »Buna IV« liefern würde. 20.000 dieser Arbeitskräfte – also KZ-Häftlinge – wurden beim Bau des 20 Quadratkilometer Fläche beanspruchenden riesigen Werkes, bei dem sie unter Bewachung durch die SS vor allem zu Planierungs-, Schacht-, Beton-, Maurer- und Montagearbeiten gezwungen wurden, zu Tode gebracht: durch chronische Unterernährung, Erfrieren, Prügel und Schikanen. Dieses monströse Verbrechen war einer der Anklagepunkte im IG-Farben-Prozess der Alliierten 1947/48. – Zweck von »Buna IV« – errichtet von 1941 bis Januar 1945 – war vor allem die Produktion von Synthesekautschuk (genannt Buna) und Synthesebenzin (aus Kohle hergestellt). »Buna IV« wurde aber nicht fertig; die Rote Armee war schneller; am 27. Januar 1945 befreite sie Auschwitz. – (Warum »Buna IV«? »Buna I« war 1936 in Schkopau errichtet worden, »Buna II« und »Buna III« hießen die Werke in Hüls und in Ludwigshafen; zum Schluss also »Buna IV«.) – Nach dem Krieg wurde das Werk – nun zu Polen gehörend – in Betrieb gesetzt. Teile davon produzieren bis heute, andere sind stillgelegt. Man kann sich das in Oświęcim (Auschwitz) anschauen.
Krischan am 17. März 2015
Weitere Korrekturen:
[3] Auschwitz III ist tatsächlich lediglich das Konzentrationslager, das für das Werk Buna IV (in dem mein Urgroßvater gearbeitet hat) errichtet wurde, die beiden sind also keine Synonyme für ein und dasselbe, danke Asiatica. Ein genauerer Blick auf die Karte macht das deutlich.
Krischan am 17. März 2015
Meine Mutter hat mir immer erzählt, ihr Vater hätte nur geahnt, dass er da was mit Nervengas macht, aber keine offiziellen Informationen gehabt …
Asiatica am 18. März 2015
Danke, Krischan, für die freundliche Aufnahme meiner Anmerkungen.
Wenn ich über diese Dinge nachdenke, versuche ich, mich in die Zeit, den Zeitgeist und auch in die geographischen usw. Gegebenheiten hineinzudenken. Darum ist es mir zum Beispiel wichtig, etwas über die Größe von Buna IV zu wissen und mir vorzustellen, was da ein Einzelner sehen/wissen/erfahren konnte. Und wie das Sehen und Erfahren auf seine zeitgeistige Konditionierung wirkte. Beispiel: Im Leunawerk in Leuna und im Werk Buna I in Schkopau, woher etliche Hundert Ingenieure, Meister und Facharbeiter der Baustelle Buna IV in Auschwitz stammten, gab es auch schon Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene – es waren solche Begegnungen in Auschwitz also nichts Neues. Es war »normal«. So »normal«, wie es war, dass »Feinde« selbstverständlich eingesperrt waren. Wofür »logisch« die Konzentrationslager errichtet worden waren. Und man sich nicht genauer dafür interessierte, wie das im einzelnen vor sich ging. – Das alles findet in den Erinnerungspassagen, die du anbietest, eine individuelle Widerspiegelung. Und die eröffnet einem die Möglichkeit, sich selbst zu prüfen.
In der Erinnerungsliteratur von Häftlingen finden sich übrigens auch Passagen, die solches Handeln, wie es in den Erinnerungspassagen zu Schönfeld beschrieben ist, bestätigen. Darf ich etwas empfehlen? Klaus Müller, Justin Sonder: 105027 Monowitz – Ich will leben! Nora Verlag Berlin 2013. Justin Sonder wurde 1943 siebzehnjährig aus Chemnitz nach Monowitz (Auschwitz III) verbracht.
Und zu den Engländern, die in den Erinnerungspassagen beschrieben sind. Da gibt es den ganz und gar überwältigenden Bericht eines Mannes, der mit 90 die Kraft fand, seine Memoiren zu veröffentlichen: Denis Avey, Rob Broomby: der Mann, der ins KZ einbrach, Köln 2011. Avey war einer dieser Kriegsgefangenen, die in Auschwitz arbeiten mussten, und er tauschte mit einem KZ-Häftling für eine Nacht die Kleidung, um, wenn er nach Hause kommt, über die unglaublichen – und weithin nicht für möglich gehaltenen – Verhältnisse berichten zu können.
Schließlich noch ein Buch, das ich in Oświęcim erworben habe: Franciszek Piper: Arbeitseinsatz der Häftlinge aus dem KL Auschwitz, Oświęcim 1995.
Mit Dank für deine Anregungen!
JOpa am 19. März 2015
Mir liegt eine Kopie eines Durchschlags vom Dezember 1947 vor, der offenbar eine schriftliche Stellungnahme vom Urgroßvater bei den Nürnberger Prozessen ist. Dort ist er damit offenbar als Zeuge im IG-Farben-Prozess zur Person Dr. Dürrfeld aufgetreten. Von »Geheimhaltung einer Tätigkeit« könnte also keine Rede sein. Alles eine Frage der Ernsthaftigkeit der Recherche.
Krischan am 27. März 2015
Hab mir inzwischen einen Bibliotheksausweis besorgt und u.a. auch das Buch von Wagner-Kyora ausgeliehen. Ein kurzer erster Blick in die unerwartet schwer zu findenden Kapitel zu »Diplom-Ingenieur Adolphi« ruft bei mir zunächst staunende Empörung hervor. Offenbar sollte da ein exemplarischer Gegenpol zum deutlich kritischeren und nach dem Krieg offener sprechenden Kollegen der vorherigen Kapitel entworfen werden, und wer böte sich da besser an als der mit Abstand beharrlichste Schweiger, aus dessen dürftiger Faktenlage sich per eindimensionaler Küchenpsychologie über viele Seiten hinweg das Persönlichkeitsbild eines strammen Nazis konstruieren lässt? Wer so eisern über die Auschwitzer Zeit schweigt, kann ja schließlich nur allerschlimmstes zu verbergen haben, und auch alle anderen Indizien werden ausschließlich gegen ihn verwendet, Abwägungen oder alternative Intentionen außen vor gelassen und nur die eigenen Interpretationen als wahre Tatsachen hingestellt. Kommt mir nicht sehr wissenschaftlich vor. Aber ich bleibe dran und lese nochmal gründlicher nach.
Krischan am 27. April 2015
Also. Viel zu ändern gibt es an meiner Meinung zu Wagner-Kyora nicht. Er ordnet alle Mitarbeiter des IG-Werks Auschwitz als Gehilfen bei der »Vernichtung durch Arbeit« ein, außer denen, die in den höchsten Ebenen der Werks-Hierarchie Entscheidungskompetenz über den Einsatz der Häftlinge hatten, Selektionen durchgeführt oder Häftlinge denunziert haben und demzufolge als Täter anzusehen sind, ebenso aber auch alle höheren und mittleren Angestellten, die insbesondere auf der Baustelle als Vorgesetzte direkt mit den Häftlingen in Kontakt gekommen sind. Was man für Günther Adolphi annehmen muss. Klingt plausibel, ist mir aber insbesondere im letzten Punkt zu pauschal.
Mein eigentlicher Kritikpunkt ist aber auch die Darstellung der Person Günther Adolphi, die auf bewusst einseitiger Interpretation dürftiger Anhaltspunkte fußt: Er war in der NSDAP, also hat er seinen Sohn strikt nationalsozialistisch erzogen. Er hat die KZ-Häftlinge als Menschen zweiter Klasse verachtet, weil er seinem Sohn vor dessen Eintreffen in Auschwitz die Anwesenheit von Häftlingen und deren häufiges Sterben angekündigt hat. Er fand das alles ganz normal, weil er ja schließlich sogar seinen halbwüchsigen Sohn dorthin geholt hat. Er hat seinen Sohn vor dem Kontakt mit Häftlingen gewarnt, weil es seiner eigenen Meinung entsprach und nicht der geltenden Vorschrift von SS und IG. Er kannte den Tischlermeister, bei dem sein Sohn lernte, ganz bestimmt persönlich aus Leuna und hat ihn zur kontrollierenden Aufsichtsperson gemacht, die dem Sohn in des Vaters Auftrag verbot, einem Häftling etwas Essen zu geben. Er hat eisern geschwiegen über die Zeit in Auschwitz, also hat er schlimmste Verstrickungen zu verbergen. Er hat ja noch nicht einmal die Chance ergriffen, sein Gewissen zu erleichtern, als ihm die liebe gute Stasi dafür wiederholt ein offenes Ohr und eine weiche Schulter bot.
Selbst dem eigentlich gegen seinen Willen in Auschwitz arbeitenden Technischen Zeichner Küster, der mit kleinen Hilfestellungen freilich erfolglos versucht hat, das Elend der Häftlinge zu verkleinern, unterstellt Wagner-Kyora, er »reklamiere eine mögliche Bedrohung der eigenen persönlichen Unversehrtheit für sich«. Als hätte diese Gefahr nicht in der Tat bestanden.
(Deutlich positiver dargestellt und für mich recht interessant weil an vielen Stellen neu fällt übrigens die Darstellung des Sohnes Gernot Adolphi aus.)
Und wieso er im Interview eines weiteren Artikels meinen Urgroßvater auf einmal als rechte Hand des technischen Direktors bezeichnet, weiß ich nicht. Der Rest ist ja wieder nur fiese Umschreibung typischer Aufgaben eines Vorgesetzten, die hier aber eine unmittelbare Täterschaft beweisen sollen. So einfach ist das.
Aber eigentlich wollte ich mich nicht in die Rolle des Verteidigers drängen lassen. Konstatieren wir also möglichst sachlich: es sprechen durchaus Indizien gegen meinen Uropa, zumal in Briefen etwas von einer »Pistole, die von der letzten Werkschutzwache her noch an meinem Gürtel hängt« auftaucht. Welcher Teil des IG-Werkschutzes kann da gemeint sein? Und was zum Teufel macht ein Ingenieur dabei, der ohnehin schon über hohe Arbeitsbelastung klagt? Was zum Teufel hat er da eigentlich gemacht? War er in der Lage, bei den regelmäßig abzuliefernden Beurteilungen der Arbeitsleistung der ihm unterstellten Häftlinge zu schummeln? Oder war er ehrlich und hat die eigentlich richtigen Werte eingetragen, und den Rest hat dann die IG-Leitung und die SS erledigt, das ging ihn ja gar nichts mehr an? Jetzt fang ich auch schon an mit dem ewigen Gefrage.
Aus seinen Erinnerungen kommt mir noch eine Stelle in den Sinn, die ich gerade nicht finden kann, wo er aber sinngemäß meint, dass man eben durch schlechte Zeiten durch muss, wenn man eine neue, bessere Zeit erreichen will. Einen Krieg hat er ja selbst schon als Halbwüchsiger aktiv mitgemacht. Für die deutsche Sache im Baltikum. Aber eine Beteiligung als Täter des Holocaust lässt sich nicht mit Fakten untermauern. Und an solchen Fakten bin ich hier interessiert.
Aber woher nehmen?
Krischan am 10. August 2015
Inzwischen sind weitere Artikel in der Mitteldeutschen Zeitung erschienen:
Das Auschwitz-Kommitee ist über die »absolut pietätlose Entscheidung« empört, eine Straße nach jemandem zu benennen, der »tief ins Auschwitz-System verstrickt war«. Der Oberbürgermeister lässt nun von dritter Seite oder doch von einer Kommission prüfen, in der Hoffnung auf objektive Ergebnisse, und die Hochschule will die Vorwürfe ebenfalls erneut untersuchen.
Die Stadt fürchtet natürlich vor allem um ihren guten Ruf, den sie gerade mit ihrem tausendjährigen Dom aufpolieren möchte, und drängt auf schnelle Entscheidung. Wenn sich herausstellen sollte, dass Adolphi »in etwas verstrickt war«. In was? Egal.
Die Hochschule will ihren Ehrenprofessor natürlich nicht vorverurteilen, sieht sich aber zum Handeln gezwungen und klebt die Straßenschilder erstmal ab. Neue Formulierung eines Vorwurfs: »Adolphi habe bewusst das Leid von Zwangsarbeitern in Kauf genommen.« Wessen Entscheidung war der Einsatz der Häftlinge?
Eine Zeitzeugin hat sich gemeldet und bescheinigt Adolphi »humanes« Verhalten. Schließlich war sie seine Untergebene und am Ende ebenfalls verstrickt. Dem wird die allgemeine Verstrickung von IG-Führung und SS gegenübergestellt, so als hätte das was konkretes miteinander zu tun. Der Hochschul-Rektor besteht auf eindeutige Belege und will mit Studenten nach Auschwitz fahren und vor Ort »ergebnisoffen« nach Hinweisen forschen. Studenten sind schließlich billiger als Kommissionen und Experten, und vielleicht lernen sie ja sogar was dabei.
Dass die Stasi ein Vorreiter in antifaschistischer Aufklärung war, steht bei Wagner-Kyora und jetzt auch nochmal in der Zeitung. Gefolgt von der Unterstellung, Adolphi wäre nur nach Auschwitz gegangen, weil er als Ingenieur Karriere machen wollte. Das wäre natürlich schlimm.
Die Stadt entscheidet noch nicht so bald über den Namen. Ohnehin braucht sie dafür belastbare Fakten.
Nach weiterer Lektüre verschiedener Bücher zum Thema (Bernd C. Wagner, Primo Levi) halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass sich der Montageleiter persönlich um die »Disziplinierung« der Häftlinge gekümmert haben soll, standen doch in der Befehlskette zwischen ihm und den Kapos noch mindestens die ausführenden Firmen mit ihren Meistern, die im Übrigen auch die Bewertung der Arbeitsleistung vorzunehmen hatten, die dann eine der Grundlagen für die Selektionen bildeten.
Bei diversen Unterhaltungen im Verwandtenkreis waren sich natürlich auch alle einig, dass Günter Adolphi absolut integer war. Aber das ist ja immer so: Opa war kein Nazi. Vielleicht findet sich ja mal Zeit für ein ausführlicheres Gespräch. Dass ich mir ein Bild machen kann.
Ach: und auch der Wikipedia-Artikel hat sich erweitert und übernimmt vorerst ungeprüft die Vorwürfe aus den Zeitungsartikeln.
Und auch die überregionale Presse schreibt ab: Welt, Deutschland, Berliner, Kölner, Focus.
Krischan am 18. November 2015
Nach längerer Zeit gibt es mal wieder Neuigkeiten in der Mitteldeutschen Zeitung: es hat sich nun doch noch ein Historiker gefunden, der im Auftrag der Hochschule »das Geheimnis um Adolphi lüften« soll. Sein Gutachten soll bis Februar ’16 vorliegen.
Krischan am 4. Januar 2016
Die Merseburger Straßenschilder sind zwischenzeitlich wieder enthüllt, was aber nur mit den rechtlichen Vorgaben im Zusammenhang mit der Landtagswahl zu tun hat. Ansonsten noch immer nichts neues. Doch: ein Buch meines Onkels, das die Geschichte literarisch nacherzählen will und auch unter meinem Weihnachtsbaum gelandet ist; damit bin ich aber noch nicht durch.
Krischan am 11. Februar 2016
Es liegen erste Ergebnisse vor: Professor Frei und seine Studenten haben gestern ihre Erkenntnisse im Rahmen der Veranstaltung »Ehre, wem Ehre gebührt?« vorgestellt und sind darin zu dem Schluss gekommen, dass sie »bei allem persönlichen Verständnis ihn nicht für ehrenswert halten und die Straßenbenennung aus heutiger Sicht zurücknehmen würden«. Weil er schließlich von den Zuständen im Lager wusste und trotzdem Wissenschaftler und Ingenieur blieb. Ein klassischer Mitläufer also, wie es ihn millionenfach gab, so der MDR. Der sich im übrigen nicht zu doof ist, aus der Frage der Ehrbarkeit eine Frage der Schuld zu machen.
Es soll nun aber weiterhin zunächst das in Auftrag gegebene unabhängige Gutachten abgewartet werden, das wohl aber erst im September zu erwarten ist. Danach wird die Hochschule eine Empfehlung an die Stadt geben, die über die Benennung zu entscheiden hat.
Krischan am 16. Februar 2016
Die Mitteldeutsche Zeitung meldet und kommentiert.
Krischan am 9. März 2016
Ach richtig, die im vorletzten Kommentar genannte Veranstaltung ist ja jetzt auch als Video nachzuerleben. Wenn man Zeit und Geduld hat.
Krischan am 14. März 2017
Auch der September ist inzwischen schon seit einem halben Jahr vorbei, aber nun soll es sich laut MZ so langsam klären, ob die kleine Straße im Merseburger Hochschulgelände weiterhin nach meinem Urgroßvater heißen darf oder nicht. Mir ist es inzwischen ja vollkommen schnuppe. Hinterher weiß man natürlich, dass es eine dumme Idee war, sich nach Auschwitz versetzen zu lassen, aber einmal dort, hatte er vermutlich kaum eine andere Wahl als die, stattdessen zur Front geschickt zu werden. Und dort hätte er mit Sicherheit anderen Menschen das Licht ausgeblasen. Was er in Auschwitz nicht getan hat, da bin ich mir doch ziemlich sicher.
Krischan am 21. September 2017
Neue Meldungen: das Gutachten liegt der Hochschule jetzt vor. Was drinsteht, weiß die Zeitung noch nicht, orakelt aber weiter etwas von »Kenntnissen über die Situation der Zwangsarbeiter«, so als stünde das in Frage und wäre andererseits schon ein hinreichender Grund für eine Entwidmung. In zwei Wochen will sich die Hochschule eine Meinung gebildet haben und der Stadt eine Empfehlung aussprechen. Darf man schon gespannt sein?
Krischan am 6. Oktober 2017
Überraschung: die Unileitung hat sich für eine Entwidmung der Günther-Adolphi-Straße ausgesprochen. Eindeutige Hinweise für eine Verstrickung gebe das Gutachten zwar nicht her, aber dafür eine Menge an anderen Indizien, die eine Neubewertung nötig machen. Genaueres soll später noch bekanntgegeben werden.
Krischan am 26. März 2018
Ein Namensvetter von mir, der auch im Studierendenrat der Merseburger Hochschule sitzt, weiß übrigens ganz genau, dass es zwischen meinem Urgroßvater und Adolf Eichmann nur graduelle Unterschiede gibt in ihrer Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen.
baoma am 13. April 2018
was soll man sagen? die strassenbennenung tut vermutlich wirklich nicht not. aber wenn jemand im warmen stübchen unter gesichertem wohlstand, not nie gekannt, das verhalten von menschen in wirren zeiten unter rabiaten umständen beurteilt, wirds immer schwierig und für mich oft unglaubwürdig.
Krischan am 26. April 2018
Der Merseburger Bauausschuss will sich in einer Sondersitzung mit der Entwidmung befassen, meldet die Mitteldeutsche Zeitung. Neuer Name soll dann wohl Hochschulstraße sein. Laut Amtsblatt stand das vorgestern auf der Tagesordnung.
Krischan am 28. April 2018
Die Entscheidung des Bauausschusses ist vertagt worden, weil die Hochschule die Studie nicht rausrückt, der Stadtrat aber nicht ohne eine Einsicht entscheiden will. Obwohl da ja wohl gar keine neuen Erkenntnisse drinstehen.
Krischan am 1. Juli 2018
Ich hab die Entwicklung der letzten zwei Wochen verschnarcht: die Stadtverwaltung soll wohl demnächst wenigstens eine Zusammenfassung des Gutachtens zu sehen bekommen, und die Installation meines
dämlichendemagogischen Namensvetters wurde tatsächlich knallhart zensiert, er muss nun ins Gefängnis und niemand bekommt seine Arbeit zu sehen.Krischan am 2. Februar 2019
Dr. Stefan Hördler hat nun vor einer reichlichen Woche schon sein Gutachten öffentlich vorgestellt, in dem er zum Schluss kommt, dass Günther Adolphi kein kleines Rädchen war und direkt an der Auswahl der Arbeitskräfte und damit an der Selektion der Häftlinge beteiligt war, wobei ihm klar gewesen sein muss, was mit den nicht arbeitsfähigen passiert. Zudem war er freiwillig in der Partei und in Auschwitz und hat seine Arbeit dort »zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten« erledigt.
Da hat er natürlich recht, auch wenn das mit der Freiwilligkeit zu den damaligen Bedingungen und dem Bedürfnis, seine Arbeit gut zu machen, so eine Sache ist. Was hätte ich/du/wer anders denn an seiner Stelle gemacht? Mit welchem Ergebnis? (Oder viel wichtiger: was kann/muss/darf/soll man heute tun, um zu verhindern, dass sich die Gesellschaft wieder derart entwickelt, dass Menschen in Situationen geraten, aus denen sie nicht rauskommen, ohne sich ihre Hände mit Blut zu beflecken? Die Frage ist ja nun offenbar ganz aktuell.)
Er war dort, weil er als Ingenieur am Bau eines neuen und großen Werkes mitwirken wollte. Dass das Ding im Osten geplant war, wo er sich immer wohler gefühlt hat als in Mitteldeutschland, wird auch eine Rolle gespielt haben. Und 1941/42, als er sich dafür entschied, war das KZ in Auschwitz noch gar nicht das Vernichtungslager, als das es heute bekannt ist. Später aber sehr wohl. An welcher Stelle hätte er wie reagieren und was tun müssen, um was zu erreichen? Ich weiß es nicht. Wer weiß es?
Der Straßenname ist damit nun wohl eindeutig und endgültig futsch, das stand ja im Grunde von Anfang an außer Zweifel und ist ja auch richtig so, das sehe ich auch so, die Hochschule bleibt aber auf der Suche nach einem Nachfolger.
Krischan am 1. Juli 2019
Im Beschluss Nr. 140/28 SR/19 über die Umbenennung der Privatstraße Günther-Adolphi-Straße auf dem Campus der Hochschule Merseburg wurde schon Anfang des vorletzten Monats mehrheitlich beschlossen, die bisherige »Günther-Adolphi-Straße« in »Friedrich-Zollinger-Straße« umzubenennen. Nicht einstimmig, und beim Beschluss Nr. 139/28 war auch noch einer mehr anwesend, aber 20 Ja- gegen 5 Nein-Stimmen bei 7 Enthaltungen sind deutlich.
Laut Jürgen Jankowsky wird die Umbenennung erst im Oktober umgesetzt. Und die Bestätigung der Hochschule steht ja auch noch aus, aber das ist sicher nur eine Formsache.
Die MZ hat offenbar nicht mehr berichtet. Gibt wohl nix mehr zu raunen.
Krischan am 8. August 2019
Stadt und Hochschule und Studentenwerk informieren.
JOpa am 14. August 2019
Vielen Dank für die ausführliche Kommentierung des Vorgangs und die Verlinkung zu den Quellen!
Ich fand die Idee mit der Namensgebung von Anfang an problematisch, weil die Gefahr offensichtlich war, dass anstelle historischer Untersuchungen viele Sieger-Sicht-Gessner-Hut-Grüße stattfinden würden. Insofern ist der Versuch von Wolfram Adolphi, offene Fragen in Romanform anzugehen, sehr lobenswert, auch wenn stilistisch die Hektik des Entstehungsprozesses nicht zu übersehen ist.
Krischan am 15. August 2019
Auf Openstreetmap ist der neue Straßenname übrigens schon zu finden, Googles zentral verwaltete Mühlen mahlen da noch etwas langsamer.
Krischan am 30. Oktober 2019
Radio Corax hat Stefan Hördler zu seinem Gutachten interviewt. Sehr interessant, aber leider ohne etwas neues zur konkreten Verstrickung von Günther Adolphi. Er war dort, es haben dort Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge gearbeitet, auch in seinem Zuständigkeitsbereich, er wusste das natürlich und hat wohl auch in Sitzungsprotokollen darüber berichtet, und auch von der Vertreibung der polnischen Einwohner hat er profitiert, aber obwohl das Wort Handlungs(spiel)raum immer wieder fällt, wird es nicht konkret auf ihn angewendet. Stattdessen wird aus den genannten Punkten eine moralische Verantwortung abgeleitet, was nun auch nicht ganz falsch ist. Es geht ja gar nicht um konkrete Schuldzuweisungen, sondern um die Frage, ob jemandem mit diesem Hintergrund die Ehrung eines Straßennamens zuteil werden darf.
Wer will, kann an anderer Stelle des Radios auch nochmal die Ahnungslosigkeit meines schon genannten Namensvetters nachhören. Na gut, die Verwechslung oder Gleichsetzung von Werk und KZ ist mir auch passiert, s.o., aber dass Wikipedia-Artikel nicht schon seit den Neunzigern denselben Inhalt haben wie aktuell, das sollte man schon wenigstens ahnen.
Krischan am 19. Dezember 2019
Ich bin schon wieder einen Monat zu spät: es gab zwei Meldungen über die offenbar erst jetzt offiziell erfolgte Straßenumbenennung. Hab ich das was über die Freude des Zu-den-Akten-legens gelesen? Könnte sein, du.