Ich bin ja jetzt ehrenamtlich unterwegs. Obwohl ich noch gar kein Rentner bin. Aber als letztes Jahr so eine kleine Kampagne durch die Medien schwappte, dass man sich doch bitte als Schöffe (sprich: ehrenamtlicher Richter) bewerben solle, weil die Rechtsextremen das auch machen und dann Gegengewicht notwendig wäre aus der Mitte der Gesellschaft, da hab ich mich direkt angesprochen gefühlt und mich zudem daran erinnert, dass meine Mutter früher auch Schöffe war und ab und zu davon erzählt hat und dass ich das cool fand und ja auch irgendwann mit einem halben Gedanken daran gedacht hatte, dass es ehrenwert wäre, Rechtsanwalt zu sein und so. Jedenfalls hab ich mich beworben, nach einigem Zögern und Rückversichern im Bekanntenkreis, ob ich zaudernder Schluffi überhaupt geeignet sei, hab mir die erforderlichen Unterlagen runtergeladen, ausgefüllt, abgeschickt und gewartet. Das dürfte so ziemlich ein Jahr her sein.
Und bin dann tatsächlich gewählt worden. Erst kam nur der Hinweis, dass meine Bewerbung dankend entgegengenommen wurde, dann tat sich lange nichts. Aber im November kam schließlich die Benachrichtigung, ich sei für die Zeit 2024–28 als Hauptschöffe am Amtsgericht Tiergarten gewählt worden und die weiteren Unterlagen kämen später. Was dann Anfang Dezember auch geschah: Termine, Formulare, Vordrucke, Einladungen und Merkblätter. An zwölf Freitagen im Jahr muss ich mich nun pünktlich um neun einstellen. Vorher aber eine Bestätigung und dies und das zurücksenden.
Und eigentlich war schon letzte Woche mein erster Verhandlungstag, aber der wurde dann doch zwei Wochen vorher wieder abgesagt. Keine Ahnung warum, das stand da nicht, kann ja alles mögliche sein, da haben so viele Beteiligte ihre Einflüsse drauf. So dass jedenfalls mein erster echter Kontakt mit dem Justizapparat, den Richtern und Anwälten, den Knackis und Unschuldigen, den Zeugen und Gutachtern noch aussteht, weil das heute war ja was ganz anderes: die nach § 63 des Berliner Richtergesetzes stattzufindende Versammlung aller Schöffinnen und Schöffen mit der Wahl ihrer Vertretung.
Die Adresse hab ich erst gar nicht finden können, zum einen weil sie in der Einladung des »Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten« als Thusneldaallee 1 auftaucht, obwohl sie laut allen mir verfügbaren Kartendiensten Thusnelda-Allee 1 heißt und die Suche bei Openstreetmap mit dem fehlenden Bindestrich nichts anfangen kann, zum anderen weil sie trotz des wuchtigen Namens erst bei Zoom-Stufe ganz-schön-hoch überhaupt zu sehen ist, diese kurze und eigentlich gar nicht separat zu benennende Verbindung zwischen Turmstraße und Alt-Moabit an genau der Stelle, wo sie sich am nächsten kommen, ziemlich genau 50 Meter dürften das sein. Und die einzige Adresse dort ist die Heilandskirche, und die hat die Nummer 1.
Und dann war die Straßenbahn natürlich sehr viel langsamer als in den Verbindungs-Informationen angezeigt, was man sich aber um die Uhrzeit (so gegen neune) auch an einem Finger abzählen kann. Die Straßenbahn fährt ja nicht die ganze Strecke im eigenen Gleisbett, überall stehen Autos dumm rum und ab und zu muss auch die Rollstuhlrampe aus- und wieder eingefahren und -geklappt werden. Aus der angekündigten halben Stunde wurde also fast genau die dreiviertel Stunde, die ich als ausreichend genug eingeplant hatte, um nochmal um den Block zu laufen und die Kirche zu knipsen.
Aber ich war ja gerade noch rechtzeitig da. Die Endhaltestelle der Straßenbahn liegt praktischerweise auch direkt neben der Kirche. Vorm Eingang musste ich den uniformierten Justizbeamten noch kurz meine Einladung vorweisen, also den Brief des o.g. Präsidenten, den musste ich erstmal aus dem Zettelstapel herausfischen, den ich da ordentlich sortiert in meinem Hefter hatte. Wollte mich noch wundern, dass gar kein Namens- und Adress-Abgleich stattfand, da sehe ich gerade, dass dieses Schreiben selbst ja gar nicht adressiert ist, sondern nur als Anlage »An die Schöffinnen und Schöffen des Amtsgerichts Tiergarten« dem eigentlichen Schreiben beilag. Siehste, hätte ich auch meinen Nachbarn oder meine Frau schicken können. Drinnen den noch leeren Stimmzettel von weiteren uniformierten Justizbeamt*innen entgegennehmen und verblüfft sehen, dass der Saal unerwartet voll war, die Reihen aber immer noch recht locker besetzt waren, so dass ich am Rand vorne links noch einen Stuhl fand, für dessen Einnahme ich niemanden hochscheuchen musste. Tasche absetzen, Hefter und Zettel und Stift raus, und schon gings los mit der Ansprache.
Ein Herr Jacobs, den ich gerade auch als Im-Auftrag-Absender der o.g. Einladung entdecke und der als Richter am Amtsgericht Tiergarten tätig ist und dort wohl als sowas wie der Ansprechpartner oder Beauftragte für die Schöffen fungiert, erklärte kurz, dass es im Wesentlichen um die Wahl der Vertreter aller Schöffinnen und Schöffen geht und wies nochmal darauf hin, dass die Teilnahme an dieser Veranstaltung freiwillig sei. Eine bisherige Vertreterin sollte kurz die letzten Jahre nacherzählen, hat aber im Grunde fast nichts dazu gesagt: sie treffen sich vierteljährlich und alles ist interessant, die Weitergabe der E-Mail-Adresse steht sowie das Angebot, diese in der Übergangsphase weiter zu betreuen. Der Vorsitzende vom Landesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter in Brandenburg und Berlin erzählte was vom Verein und den kostenlosen Veranstaltungen an den Volkshochschulen und dass das keine Gewerkschaft ist, von wegen Bahnstreik, höhö.
Dann sollte es mit der Wahl losgehen. Herr Jacobs empfahl, die Wahlordnung so anzunehmen, wie sie im Schreiben schon angehängt war, und sich als Wahlleiter, obwohl natürlich auch jemand anderes das machen könne, aber er und seine Mitarbeiterinnen kennen das schon und haben Erfahrung und so. Ja, akzeptieren wir. Bevor Beschlüsse gefasst werden konnten, meldete sich jemand und beantragte, die Wahl ganz zu lassen, es gäbe ja schon so viele Vertreter im öffentlichen Dienst und überhaupt, das wäre doch alles überflüssig. Aber die Mehrheit nahm die Wahlordnung und den Wahlvorstand an. Dann hagelte es Fragen zu den Voraussetzungen, die an die Kandidaten gestellt werden (keine), ob sie Erfahrung mitbringen müssten (nein) und ob sich auch ganz neue Schöffen aus der Geschäftsperiode 2024–28 aufstellen lassen dürften (ja; waren das nicht alle Anwesenden?).
Statt der erwarteten drei meldeten sich neun Kandidaten, deren Namen nun auf dem an die Leinwand projizierten Bildschirm auftauchten, war das Word oder Powerpoint? Dann wurde festgelegt, dass bei so vielen Kandidaten eine schriftliche Wahl mit Wahlzetteln statt mit einfachen Handzeichen stattfinden sollte, und abgestimmt, ob alle dafür sind, dass jeder nur drei statt fünf Minuten Redezeit habe für seine Vorstellung. Na klar. Außerdem sollten sich noch sechs Wahlhelfer melden, worauf sich auch deutlich mehr Leute zur Verfügung stellen wollten. Was los hier? Ist das noch Berlin? Ich hatte aber auch geliebäugelt …
Der erste Kandidat war ein älterer Herr mit leichtem Geschonnek-Touch, der als Gewerkschafter und Arbeitnehmer-Vertreter schon Erfahrung in Gremienarbeit mitbringt. Der zweite ein auch nicht mehr junger Künstler mit antifaschistischem Pulli. Der dritte war ein vermutlich türkisch benamter junger Mann mit Erfahrung im Katastrophenschutz und routiniertem Auftreten. Der vierte hatte Erfahrung in der Obdachlosenhilfe, ich kann mich aber schon gar nicht mehr an ihn erinnern. Kandidatin Nummer fünf war eine orangegewandete Rentnerin, die schon mit Jung und Alt gearbeitet hat, u.a. wohl als Kita-Leiterin. Kandidat sechs war ein Key-Irgendwas aus einem internationalen Energie-Konzern. Kandidatin sieben sprach mit herrlichem slawischen Akzent, wusste aber leider nicht so recht, was sie sagen sollte, trotz ihrer Notizen. Kandidat Nummer acht hatte zwischenzeitlich seine Kandidatur zurückgezogen, und die neunte Kandidatin war eine grauhaarige Sportlehrerin, die auch genau so rüberkam. Drei Namen (Nummer reicht auch) auf die Zettel schreiben, während die Kandidaten nochmal mit Nummer vorm Bauch vorne stehen mussten, und dann kamen die Mitarbeiterinnen mit der Kiste rum und sammelten die zum Teil albern klein gefalteten Zettel ein. Das Auszählen sollte nun mindestens fünfzehn Minuten dauern, wir durften also aufstehen, rausgehen, was auch immer.
Gewonnen haben der junge dynamische, die orangene Rentnerin und die Sportlehrerin. Ausländer- und Frauenquote also übererfüllt, und keine weißen alten Männer! Sehr gut! Der Antifa-Kleinkünstler hat die wenigsten Stimmen bekommen, weniger noch als der Key-Dings. Wer weiß. Das Auditorium, wie es der Herr Jacobs nicht müde wurde zu nennen, war übrigens hübsch durchmischt, neben mir ein Typ mit zerknitterter taz, vor mir einer mit langen Haaren unter der Wollmütze, daneben eine mit ganz kurzen, aber auch eine Camp-David-Jacke durfte nicht fehlen, ebenso die bunt bestrickte Hippie-Tante oder die Aktivistin von kaum zwanzig mit Farbverlaufsfärbung in den langen Haaren. Einen einzigen schwarzen habe ich auch gesehen, PoC muss man sagen, glaub ich.
Das wars im Grunde, hat ja auch die versprochenen anderthalb Stunden gedauert, erneuter Hinweis auf die Website und wie man dahin kommt und dass es dort noch die Schöffenfibel herunterzuladen gäbe, die hier auch zum Mitnehmen ausläge, aber nur zweihundert Stück, das reicht nicht für alle. Es waren noch fünf Fragen erlaubt, da ging es nochmal um Absagen von Terminen, Abwesenheitszeiten und wie und wo man die meldet und ob man Rückmeldungen bekommt und wie kurzfristig die Ersatzschöffen angefragt werden können. Zum letzten Punkt hatte ich erst vor wenigen Tagen Berichte im Internet gefunden, wo tatsächlich für denselben Tag angefragt wurde: wie schnell können Sie denn kommen? Halbe Stunde? Na dann los! Wir warten.
Auf dem Nach-Hause-Weg bin ich aber erst nochmal kurz in das Gerichtsgebäude hinein, das zwei kurze Straßenbahn-Stationen weiter an der Turmstraße liegt. Ins Haus rein kommt man noch, doch dann sieht man sich natürlich gleich einer massiven Sicherheitsschleuse gegenüber. Der Beamte fragte mich auch gleich, ob ich einen Termin habe. Auf mein vages Nur-mal-gucken-wollen hat er mir aber sehr freundlich erklärt, wo ich langgehen könne und wo ich dann evtl. ganze Verhandlungen angucken könne etc. Nur kurz Ausweis zeigen, durch eine Drehschleuse durch und dann erstmal zur eigentlichen Kontrolle. Wie im Flughafen die Umhängetasche auf ein Tablett legen, Jacke auch, alles bis auf das benutzte Taschentuch aus den Hosen kramen, Mütze ab nicht vergessen, und durch ein Piepstor gehen. Nochmal zurück und ein weiteres mal durch. Alles okay, Sachen wieder einsammeln, viel Spaß. Die Kollegen hier waren schon nicht mehr ganz so freundlich.
Und dann stehste in diesem bombastischen neobarocken Treppenhaus. Hab ich natürlich gleich fotografiert. Darf man das gar nicht? Auch wenn niemand drauf ist? Auch die Sicherheitsanlage nicht? Steht so in der Hausordnung, sehe ich gerade, nachdem ich danach gesucht habe: nur mit Erlaubnis des Sicherheitsdienstes. Da der aber direkt danebenstand und nichts einzuwenden hatte, gehe ich mal von einer Erlaubnis aus. Außerdem hatte er gerade eben andere Leute darauf hingewiesen, dass die Sicherheitsanlage nicht fotografiert werden darf, woraus ich schloss, dass ich in die andere Richtung fotografieren darf. Ich frage das nächste Mal nochmal genauer nach.
Bin dann den Anweisungen folgend die Treppe hoch und nach hinten und dort ohne weitere Rücksprache mit dem dort in einem Glaskasten sitzenden Beamten durch die Gänge flaniert, hab mir die Türen angeguckt, die Wartebereiche vor den Sitzungssälen und die dort angebrachten Zettel mit den Namen und Uhrzeiten und Aktenzeichen der anstehenden Verhandlungen, hab das Klo ausprobiert und bin eine Nebentreppe nach oben gestiegen und dann im Haupt-Treppenhaus wieder runter und in einen anderen Gang und schließlich wieder raus. Erst draußen fiel mir ein, dass ich ja noch hätte gucken können, wo der Raum 0/138 liegt, in dem ich mich dann vor meiner ersten Verhandlung einzufinden habe, aber das kann ich vor oder nach der Einführungsveranstaltung in zwei Wochen immer noch nachholen, die findet ja auch im Gerichtsgebäude statt.
Die Bahn zurück kam dann viel schneller voran, auch um den Nordbahnhof und die Schönhauser Allee herum. Und während ich meiner Holden Nachrichten schickte, fiel mir auf, dass ich gar nicht so recht wusste, was es mit dieser frisch gewählten Vertretung denn nun genau auf sich habe: wer da wen vertritt, ist klar, aber wo, wem gegenüber, in welchen Gremien zu welchen Themen, mit welchen Rechten und Möglichkeiten? Keine Ahnung. Steht das irgendwo? Schaumerma.
JoPa am 30. Januar 2024
Danke, als ob man dabei gewesen wäre, wird alles deutlich!