Ladung zu nur einem Fall. Was langes? Aufwendiges? Viele Zeugen? Für halb zehn statt um neun. Straßenbahn auch gleich viel leerer, stand dann aber am Nordbahnhof eine Weile rum, doch nicht etwa um den Fahrplan einzuhalten? War doch gar nicht so ein Bleifußfahrer wie sonst immer üblich heutzutage hierzulande, kann also nicht daran gelegen haben, dass wir zu früh waren. Ich war dann trotzdem schon kurz nach neun an Ort und Stelle, die Tür zu Saal 138 noch zu. Laut Zettel neben der Tür vier Fälle an dem Tag: um neun einer ohne Schöffen und halb eins noch so einer, halb zehn unserer und halb zwölf noch ein weiterer für Schöffen, da kommen wohl noch andere. Warum auch immer. Grund für die halbstündige Verschiebung also nicht die Lust und Laune eines Beteiligten, sondern was kurzes einfaches, wo es uns Schöffen nicht braucht.
Zehn nach neun ging die Tür auch schon auf und ein oder zwei Leute kamen raus. Ich hab noch auf Petra gewartet, bin aber die in der Ladung anvisierte Viertelstunde vor Beginn der Verhandlung aufgestanden, just in dem Moment, wo ein Justizbeamter im Gang aufkreuzte und sich erkundigte, ob ich ein Schöffe sei und mich daraufhin einlud, ich könne nun ruhig schon rein in den Saal. Alle anderen also schon da, Staatsanwalt, Richter, Protokollführerin, auch eine Übersetzerin. Der Richter hub auch schon an, er käme gleich hinter und weise uns in den Fall ein, da fiel ihm auf, dass wir ja noch gar nicht vollzählig seien. Keine fünf Minuten später war Petra aber schon da und entschuldigte sich wortreich für ihre Verspätung, die der Richter jedoch gar nicht als solche gelten ließ, es wären ja noch zehn Minuten Zeit. Die mitgebrachten Nugat-Leckereien haben wir uns trotzdem gern geteilt.
Also zum Fall: klassisches Kokstaxi. Ein Serbe mit dem dreifachen der nicht geringen Menge. Außerdem war da noch ein Schraubendreher, den die Staatsanwaltschaft gern als Waffe einordnen möchte. Ohne Vorstrafe, aber als Ausländer ohne festen Wohnsitz seit Anfang Juni in Untersuchungshaft. Was das heißt, hab ich mir ja gerade angeguckt. Und tatsächlich kam der Angeklagte also aus der Seitentür, die über versteckte Gänge und Brücken mit dem Übergang zum Untersuchungsgefängnis verbunden ist. Und saß dann dort am Rand in der kleinen, durch eine hölzerne Balustrade abgeteilten Bank. Wie ich mir das schon gedacht hatte.
Der junge fesche Staatsanwalt verlas die Anklage. Handel und Bewaffnung, soundsoviele Gefäße mit Kokain und Gras, außerdem der griffbereite Schraubendreher. Handys, SIM-Karten und Erlös in Höhe von 75 Euro eingezogen.
Der Rechtsanwalt verkündete das Geständnis. Es wäre prinzipiell alles so gewesen wie beschrieben, der Angeklagte sei aber davon ausgegangen, mit dem Job-Angebot wäre er als normaler Fahrer, etwa als Uber-Fahrer engagiert worden. Erst als er die dubiosen Pakete überreicht bekommen habe, hätte ihm gedämmert, in was er da hineingeraten sei. Er habe zu Hause sechs Kinder und noch nie etwas mit Drogen zu tun gehabt. Zudem habe er bei der Verhaftung ausführliche Angaben zu derjenigen Person gemacht, die ihm die Drogen übergeben habe, was dann auch tatsächlich zu dessen Auffindung und Verurteilung geführt habe.
Der Richter erkundigte sich nach dem Verdienst des Handels und reagierte etwas schnippisch auf die Aussage, dass der Angeklagte Geld bekommen sollte: das sei ihm schon klar sei, dass es da nicht um Zitronen ginge. Genaue Summen wusste der Angeklagte aber nicht mehr und seien wohl auch nicht vorher vereinbart gewesen. Es sei ein Mann eingestiegen und habe ihm ein Paket übergeben mit der Anweisung, an welche Anschrift das zu liefern sei. Damit kam wieder einmal nach Paragraph soundso eine Beihilfe in Betracht. Nach genaueren Erkundigungen über den sozialen Hintergrund des Angeklagten (selbstständiger LKW-Fahrer in Serbien, monatliches Einkommen zwischen 1200 und 1500 Euro, berufstätige Frau, sechs Kinder, das jüngste anderthalb Jahre alt, kein Drogenkonsum) gab es keine Fragen mehr.
Der Staatsanwalt konnte also seine Sicht erläutern: die Fakten der Anklage träfen weiterhin zu, aber die Tat sei nun als Beihilfe einzuordnen. Der Angeklagte habe keinen Einfluss und vorher auch keine Ahnung gehabt, was und wie da gehandelt wird. Ein minderschwerer Fall käme jedoch wegen der Menge der Drogen und der Waffe nicht in Betracht, trotzdem sei das kooperative Verhalten hervorzuheben. Ein Jahr und vier Monate Freiheitsstrafe seien angemessen, wegen der guten Sozialprognose und dem familiären Umfeld aber auf eine Bewährung von drei Jahren auszusetzen. Und der Haftbefehl sei aufzuheben.
Der Rechtsanwalt konnte dem im Großen und Ganzen zustimmen, vermeldete aber jetzt, der Schraubendreher wäre schon im Auto gewesen und nicht vom Angeklagten mitgebracht worden, könne also nicht als Waffe gewertet werden. Zudem sei der gerade in diesem Milieu seltene Fall der Aufklärungshilfe zu berücksichtigen, der zu einer Verurteilung des eigentlichen Täters geführt habe, sowie die mehrmonatige Untersuchungshaft in einem fremden Land, weit weg von Frau und Kindern.
Der Angeklagte hat die Gelegenheit zum letzten Wort genutzt und noch einmal bestärkt, wie leid ihm alles tue, er sei nicht nach Deutschland gekommen, um hier Straftaten zu begehen, und er möchte jetzt nur noch so schnell wie möglich zurück nach Hause.
Wir Richter haben uns dann auf eine Strafe leicht unterhalb der Forderungen des Staatsanwalts geeinigt, haben den Haftbefehl aufgehoben und den Mann in eine dreijährige Bewährungszeit entlassen. Die drei Jahre sind wohl üblich bei Strafen von über einem Jahr. Hätten trotzdem auch zwei gereicht? Kann man halbe Jahre? Macht das einen Unterschied, wenn er in Serbien seiner geregelten Arbeit nachgeht?
Bei der Ankündigung der langen Pause bis halb zwölf habe ich nochmal nachgefragt, ob wir nun wirklich nicht mehr benötigt würden, es stünden ja zwei Schöffenfälle draußen dran, wir hätten aber nur eine Ladung für den ersten bekommen. Dochdoch, wir müssen bleiben, der nächste Fall wäre auch unserer. Der war wohl recht kurzfristig eingeschoben worden, so dass die Ladung an uns schon vorher rausgegangen war. Na fein. Also Kaffee trinken gehen ins Café gegenüber.
Smalltalk über dies und das, das liegt mir ja eigentlich überhaupt nicht. Aber Petra ist prinzipiell eine wirklich nette, beim Thema Hunde und Motorräder kann ich auch zweidrei Sachen sagen, und in der Tendenz sind wir uns bei manchen Fragen verblüffend einig. Nur ihre Sicht auf die Rolle der Frau etwa und ihre kleinen Alltagsrassismen irritieren mich immer wieder. Wie passt das denn zusammen? Oder hab ich was fehlinterpretiert? Gemütlich rumsitzen bei Kaffee und Sonnenschein und Anekdoten austauschen kann man aber trotzdem.
Bei der Rückkehr ins Gerichtsgebäude konnten wir nun keine passende Ladung vorweisen, mussten uns also filzen lassen wie die stinknormalen Besucher auch. Mon dieu. Ging aber ganz flott.
Fall Nummer zwei. Ein Tunesier. Ich hatte schon überlegt, wo der Name herkommt. Die eine Hälfte hatte was arabisches, die andere aber gar nicht. Nach Zentralasien sahs auch nicht aus. Also Nordafrika. Sitzt seit Mai schon in Untersuchungshaft. Wurde mit einem umfangreichen Sortiment an Drogen aufgegriffen, alles nur kleine Mengen, aber in der Summe knapp oberhalb der nicht geringen Menge.
Als wir ein paar Minuten vor Beginn auf der Richterbank Platz genommen haben, saß der Angeklagte schon in seiner Holzbank an der Seite, der Übersetzer kam auch gleich dazu und hat Mikrofon und Headset ausprobiert, nur der Rechtsanwalt fehlte noch. Der Richter wusste scheinbar schon, dass der noch in einer anderen Verhandlung war und deren Zeitbedarf falsch eingeschätzt hatte, die Nervosität hielt sich also in Grenzen. Kurz nach halb eins steckte eine Frau den Kopf durch die Tür und informierte uns, dass es leider noch eine Viertelstunde dauere. Daraufhin wurde der Angeklagte von den zwei Justizbeamten nochmal durch die Tür in die geheimen Gänge zurückverfrachtet, offenbar eine übliche Sicherheitsmaßnahme, nicht dass der hier kurz vor seiner zu erwartenden Bewährungsstrafe noch fix ausbüchst. Dass ich das mit den Untersuchungshäftlingen und der Seitentür noch nie erlebt hatte, verblüffte den Richter kurz, das wäre doch üblich, gerade in der Drogenabteilung, so viele Angeklagte vom Balkan, für die regelmäßig U-Haft angeordnet würde.
Dreiviertel eins kam der Rechtsanwalt und zog sich seine Robe über, während es eine kurze Verständigung zwischen Richter und Übersetzer und Anwalt gab, wie denn der Name des Angeklagten nun auszusprechen und was davon der Vor- und was der Nachname sei. Dann konnte der Staatsanwalt die Anklage verlesen. Eine lange Auflistung an Tütchen und Röhrchen und Substanzen und langen chemischen Namen. Handelserlös von 520 Euro und Smartphone zur Anbahnung der Geschäfte eingezogen.
Der Rechtsanwalt erwähnte im Geständnis, dass der Angeklagte das erste Mal in Deutschland vor Gericht stehe und dass es eine umfassende schriftliche Einlassung gebe, die auch Angaben zu der Person enthalten, die ihm die Drogen übergeben habe. Er habe nämlich im Auftrag eines Libanesen gehandelt, nähme selbst keine Drogen, sei gar nicht kriminell veranlagt, sondern nur dem Ruf des schnellen Geldes erlegen. Er habe in die Einziehung des Geldes und der Gegenstände eingewilligt und sähe seine Zukunft gar nicht in Deutschland, sondern in Frankreich, wo ein Cousin von ihm ein Restaurant betreibe und wo ihn keine sprachliche Barriere hindere, Französisch spräche er ja.
Durch die Nachfrage des Richters ergab sich noch der fehlende Einfluss auf das Handeltreiben, die Preise und der Verdienst seien vorgegeben und die Drogen bereits verpackt übergeben worden, es kam also auch hier wieder eine strafmindernde Beihilfe zum Handel in Betracht. Der Rechtsanwalt erkundigt sich nach der Ergreifung des Libanesen, die aber laut Staatsanwalt nicht erfolgen konnte, es hätte sich keine Person gefunden, auf die die Beschreibung gepasst hätte. Die persönlichen Hintergründe ergaben ein ungenaues Bild, Einreise über Italien, Antrag auf Asyl gestellt, später jedoch nicht mehr weiterverfolgt, kein Bezug von Sozialleistungen. Das Gutachten wurde verlesen, die fehlenden Vorstrafen bestätigt.
Dem Staatsanwalt blieben also durch das Geständnis lange Ausführungen erspart. Eine Beihilfe konnte er nicht erkennen, bei einer Beteiligung von 20 bis 30 Prozent sei ein deutliches Eigeninteresse am Handel gegeben, der Angeklagte mithin als Täter zu sehen. Das umfangreiche Geständnis bei seiner Festnahme und die Angaben zum Auftraggeber seien aber positiv zu berücksichtigen, zudem die schon recht lange andauernde Untersuchungshaft. Er plädierte für ein Jahr und drei Monate auf drei Jahre Bewährung sowie die Aufhebung des Haftbefehls und die Entlassung aus dem Gefängnis.
Der Rechtsanwalt schloss ich dem an, war aber der Meinung, dass zwei Jahre Bewährung ausreichend seien, da die U-Haft schon so lang war. Dann schwadronierte er etwas abschweifend über arme Jungs aus Serbien und enge Korsetts und die Schwierigkeit mit der Abgrenzung von Beihilfe ganz allgemein und merkte an, dass ein Eigeninteresse auch bei Beihilfe natürlich immer bestehe, ganz egal ob der Anteil nun 20 oder 30 oder mehr oder viel weniger Prozente betrage.
Wir Richter haben uns dann wegen Beihilfe auf eine Haftstrafe von einem Jahr geeinigt, auszusetzen auf eine Bewährungszeit von zwei Jahren. Haftaufhebung und Entlassung inklusive natürlich. Das Urteil wurde angenommen und ist rechtskräftig, aber ob das jetzt eine Saalentlassung war, bei der der Verurteilte direkt in die Freiheit entlassen wird, oder ob er nochmal für einzwei Stunden zurückging und in Ruhe seine Sachen sortiert und die noch auszustellenden Papiere abgeholt hat, wie das bei Fall eins war und auch generell üblich ist, das hab ich gar nicht mehr richtig mitgekriegt. Wir mussten schließlich schnell los, der nächste Fall stand schon vor der Tür, aber wir hatten da gar nichts mehr zu suchen.
Und warum wird eigentlich in manchen Fällen schon direkt bei Verkündung des Urteils festgestellt, dass es keine Berufung und keine Revision geben wird und das Urteil damit rechtskräftig ist, und bei anderen Fällen schütteln zwar alle den Kopf bei dem Thema, aber das Rechtskräftigwerden bleibt trotzdem aus? Hatte ich das an dieser Stelle schonmal gefragt? Und hab ich mal im Gericht jemanden gefragt?