Neues Jahr, neuer Saal

Aus sechs Angeklagten wurden vier und die wurden vertagt.

Krischan am , 1 Kommentar

Jetzt hätte ich ja fast übersehen, dass die BVG streikt. Die Kinder haben zwar schon drüber geredet, weil es ihren ersten Schultag nach den Winterferien betraf, und ich musste deswegen gestern noch Fahrräder aus dem Keller holen und Luft aufpumpen und Sattelhöhe kontrollieren und Gangschaltungsgängigkeit überprüfen, aber dass das für mich relevant sein könnte? Nanu. Also nicht eine knappe Stunde vor Beginn der Verhandlung bequem in die Straßenbahn steigen, sondern die S-Bahn nehmen, die ja nicht zur BVG gehört, sondern zur Deutschen Bahn. Warum auch immer. Und die zwar schneller am Ziel ist, aber auch weitere und damit länger dauernde Fußwege zwischen Start und Bahnhof und Ziel erfordert. So sehr viel länger hab ich dann aber gar nicht gebraucht; wollte ja erst mit der Stadtbahn bis »Bellevue« fahren und dann an den anderen Gerichtsgebäuden auf der Kirch- und Wilsnacker Straße vorbei zum Kriminalgericht auf der Turmstraße laufen, um da wenigstens im Vorbeigehen mal einen Blick zu werfen, aber dann habe ich mittels VBB-Fahrinfo entdeckt, dass es vom Ringbahnhof »Westhafen« auch nicht viel weiter ist, aber der Weg zur Ringbahn viel kürzer ist als der zum Alex. Also nördliche Route.

Mittags gegen zwölwe ist die S-Bahn dann trotz des Streiks gar nicht überfüllt, wer fährt denn um diese Uhrzeit irgendwohin, und nach fünf Stationen hieß es schon wieder aussteigen und über die alberne Brücke mit dem komischen Denkmal und ein paar Ecken weiter war ich da. Vor dem Gericht mal wieder eine kleine Demo, hab gar nicht mitgekriegt, worum genau es ging, Polizei war mindestens genauso viel da wie die paar Hanseln mit Mikro. Schnell rein ins Gebäude, Ladung und Ausweis rauskramen und vorzeigen und die Info entgegennehmen, dass Saal 135 wie vermutet auch im mittleren Gang links liegt, also vermutlich wirklich der Nachbarsaal zur bisherigen 138 des letzten Jahres. Aber ich hatte noch eine knappe halbe Stunde Zeit, also erstmal hinter zur Berechnungsstelle, meine Anträge einwerfen, die vom letzten Termin und die zwischenzeitlich zurückerhaltenen, da hatten sie das fehlende Datum angemeckert, weil ich am gleichen Tag mehrere Anträge eingereicht habe und auf den Arbeitszeitbestätigungen des Arbeitgebers das Datum gefehlt hat. Beim ersten Antrag hatte das nicht gestört. Nun gut.

Saal 135

Dann noch schnell aufs Klo und vor der 135 Platz genommen. Am Zettel vor dem Saal nur die eine Verhandlung, warum also erst um eins? Aber sechs Namen darunter, so viele Angeklagte gleichzeitig. Der Saal sah von außen genauso aus wie die 138, wird innen aber spiegelverkehrt sein. Dazwischen die 137 und 136 sind die Beratungszimmer. Die erste Person, die vorbeikam, war eine stark geschminkte, migrantisch gelesene (so sagt man heutzutage doch) Person, die ich Rassist gleich für eine Putz- oder Hilfskraft halten wollte, die aber den Saal aufschloss und darin verschwand. Siehste mal, du blöder Hund. Als ich dann pünktlich die geforderte Viertelstunde vor Beginn reingegangen bin, saß sie am Platz der Protokollführerin und lud mich ein, ich dürfe ruhig schon reinkommen. Keine Justizbeamten in Sicht, auch gut. Der Beratungsraum hinten geringfügig anders eingerichtet, dadurch etwas weniger abstellkammermäßig wirkend. Nach ein paar Minuten tauchte dann auch der zweite Schöffe auf. Netter Typ, bisschen jünger als ich, in Wirklichkeit also vermutlich ein oder zwei Jahrzehnte jünger. Plauderei über den Saal und das Gebäude und die Erfahrungen des letzten Jahres und die Erwartungen an die Verhandlung und das Thema der Abteilung.

Dann tauchte eine junge Frau auf, stellte sich als Beisitzerin vor und reagierte gelassen bzw. humorvoll auf die erwartbaren Kommentare des anderen Schöffen, die ich mir wohlweislich verkniffen habe, weil sie vermutlich schon hundertmal gefallen sind: das sei ja lustig, dass sie als Richterin den Nachnamen Richter trage. Ja, das führe immer wieder zu Verwirrungen, was denn nun, Richter oder Richterin, und wie heißt der denn nun eigentlich? Dann der Richter, den Namen hatte ich mir schon erguhgelt, zusammen mit der Info, dass der Saal 135 für den Montag und die 105 für den Donnerstag fest gebucht sind für die Abteilung. Er hatte einen handschriftlichen Zettel dabei und wusste daher schon, wie die Nachnamen der Schöffen lauten müssen. Wird also doch fast wie so ein bisschen kontrolliert, wer da auftaucht und sich das Schöffenamt anmaßt. Von der Beisitzerin wurde er mit der Info begrüßt, man hätte ja schon telefoniert, aber sich bislang noch gar nicht getroffen. Ist also kein festes Gespann. Der andere Schöffe ist ja auch nur ein Ersatzschöffe, in dieser Konstellation werden wir also aller Wahrscheinlichkeit nicht nochmal aufeinandertreffen.

Kurze Einführung auch für die Beisitzerin, die noch nicht alles komplett eingesehen hatte: eine Einbrecherbande. Aber ein Angeklagter sitze aktuell schon eine Haftstrafe von acht Jahren ab, das Verfahren müsse abgetrennt werden, weil das Amtsgericht ja gar keine Haftstrafen von mehr als vier Jahren aussprechen dürfe, und wenn man auf die acht Jahre noch was draufpacken wöllte, würde das nix. Das müsse also entweder eingestellt oder ans Landgericht verwiesen werden. Zudem lägen die Taten schon länger zurück (das Aktenzeichen endet ja auch mit einer 21), die ältesten Taten sind von 2019, es solle also zunächst eine Verständigung versucht werden, was evtl. schwierig werden könnte, weil der Staatsanwalt auch nur eine Vertretung sei, die gar nicht so viel entscheiden dürfe. Jedenfalls solle es heute, wie fast schon erwartet, nur eine Verlesung der Anklage geben.

Jedenfalls sind die beiden hauptberuflichen Richter dann ohne uns Schöffen zum Staatsanwalt abgezischt und haben vorberaten. Da hätten wir eigentlich mit dabei sein dürfen, meine ich zu wissen, aber was das hätte bringen sollen, kann ich auch nicht sagen. Zurückkommend wurde jedenfalls berichtet, dass sogar zwei der Angeklagten schon eine höhere Haftstrafe erhalten haben und deren Verfahren also abgetrennt würden, die restlichen vier aber nach Möglichkeit eine Bewährungsstrafe erhalten sollten, weil die Fälle schon so weit zurückliegen, das würde dann aber beim nächsten Termin mit dem zuständigen Staatsanwalt stattfinden.

Also ab in den Saal. Der war etwas voller als gewohnt: zwei Zuhörer, zwei (oder mehr?) Justizbeamte, vier Angeklagte und vier Verteidiger/innen. (Die zwei abgetrennten Angeklagten offenbar schon wieder auf dem Weg ins Gefängnis. Oder waren sie gar nicht da? Unwahrscheinlich. Und vielleicht war der Termin ja deswegen erst um eins, weil da noch ein Transport von der JVA zum Gericht notwendig war.) Und natürlich wir vier Richter und die Protokollführerin. Der vorsitzende Richter verkündete, dass wir vorberaten hätten, dass zwei der Verfahren abgetrennt und auf Antrag der Staatsanwaltschaft vorläufig eingestellt würden. Heißt vermutlich, da überlegt noch einer, ob sich eine separate Verhandlung am Landgericht noch lohnt. Die Angeklagten hätten die Auslagen zu tragen, die Verfahrenskosten trage das Gericht.

Dann beantragte eine der Rechtsanwältinnen ihre Beiordnung, was der Richter der Protokollführerin dann geduldig diktiert hat. Dabei musste er aber, sein schlechtes Namensgedächtnis entschuldigend, sie hätten ja schon viele Stunden miteinander verhandelt, aber er könne sich nicht erinnern, nach dem Namen der Rechtsanwältin fragen. Ich habe inzwischen gerätselt, was es mit diesem Antrag auf sich habe, aber als dann auch die zweite Rechtsanwältin eine Beiordnung beantragte (deren Namen der Richter übrigens ohne Nachfrage diktieren konnte) und einer der Rechtsanwälte fragte, ob er denn schon beigeordnet sei, sein Gedächtnis sei auch nicht mehr das beste, und daraufhin vom Richter auf das Blatt 149 verwiesen wurde, da hab ich mir schon gedacht, dass hier offenbar nochmal festgeschrieben werden musste, welcher Rechtsanwalt für welchen Angeklagten auch über mehrere Termine des Verfahrens hinweg zuständig sei. Kannte ich aus dem letzten Jahr nicht.

Anwesenheitskontrolle. Personalien. Erstens in Berlin geboren, ohne Arbeit, keine Kinder, ledig. Zweitens in Berlin geboren, ungeklärte Staatsangehörigkeit, keine Kinder, keine Frau, keine Arbeitserlaubnis. Drittens Name unklar, in den Papieren ein anderer als mündlich angegeben, dem Richter lag dieser aber als Alias vor; neue Adresse, die Zahlenangaben zu Postleitzahl und Hausnummer und Briefkasten schwer verständlich und verwirrend, aber am Ende tauchte noch ein Ausweis oder ähnliches auf und die Adresse, der Name und das Geburtsdatum konnten abgeglichen werden. Viertens in Syrien geboren, syrische Staatsangehörigkeit, ledig, aber islamisch verheiratet, fünf Kinder, keine Arbeit; syrischer Pass abgelaufen, aber eine Neubeschaffung im Moment vermutlich eher schwierig, so der Richter.

Vorher oder nachher, ich weiß es gar nicht mehr so genau, hat der vorsitzende Richter übrigens auch die Besetzung der Richterbank vorgestellt, mein Nachname wurde also ganz offiziell verkündet. Fand ich gut. Bin ja immer für Transparenz.

Dann durfte der jungsche Staatsanwalt die Anklage verlesen. Schön umständlich formulierte Auflistungen der Taten von 2019 und 2020, am Ende ging es dabei immer irgendwie um Einbruch und Diebstahl und damit verbundene Sachbeschädigungen, um mitgeführte Schreckschusswaffen und verschiedene Stufen der Beteiligung. Einer hatte den Plan gefasst, andere haben geholfen, O2-Shops und Handys, Cyberport-Lager, Immobilienbüros und Safes, das wiederholte Abheben von Geld mit einer gestohlenen Geldkarte wurde auch noch einzeln aufgelistet. Der Richter bedankte sich schon, aber da war ja noch ein zweiter Ordner, und der Staatsanwalt verlas weiter, neuere Fälle aus den Jahren 2021 und 2022, das hatte die Beisitzerin wohl gemeint mit den angehängten neueren Fällen, weitere Einbrüche und ein Einbruchsversuch in einen Bahnhofskiosk. Die Details konnte ich mir so schnell gar nicht mitschreiben, aber das ist ja an dieser Stelle auch gar nicht notwendig.

Damit war das Verfahren eröffnet. Bewährungsfähige Freiheits- bzw. Gesamtfreiheitsstrafen kämen in Betracht, die Einzelheiten seien aber beim nächsten Termin zu verhandeln, in zweieinhalb Wochen um zehn im Saal 105, meine Ladung hat das ja schon so aufgeführt, für die Angeklagten wurde aber nochmal auf die geänderte Uhrzeit hingewiesen. Kurze Rückfrage einer Rechtsanwältin wegen der anderen Raumnummer. Und damit war das Verfahren auch direkt schon wieder unterbrochen. Reichliche halbe Stunde hats aber doch gedauert.

Die Justizbeamten hatten gar keine Zettel für die Schöffen dabei, auf denen der vorsitzende Richter unsere Anwesenheit für die Rechnungsstelle hätte bescheinigen können, wir waren aber damit einverstanden, das dann einfach beim nächsten Mal mitzuerledigen. Uhrzeit hatter sich notiert? Ich mir schon. Zettel einpacken, Jacke anziehen, Stuhl geraderücken, und schwupps waren wir, als wir in den Saal kamen, schon die letzten, auf die die Justizbeamten noch warten mussten, bevor sie den Saal verschließen konnten. Der Rest stand noch im Gang. Der Schöffenkollege, ich hab gar nicht nach dem Vornamen gefragt, hat sich dann in Richtung Stadtbahn verabschiedet, und ich bin wieder zur Ringbahn gelatscht.

Also gar nicht ganz so schwerkriminell wie erwartet. Woran bemisst sich nun aber die Anwesenheit eines zweiten Richters? Lag es an der Anzahl der Angeklagten? Oder doch an der Schwere der Taten? Oder ist das einfach so Brauch in der Abteilung 213?

Krischan am 20. Februar 2025

Zwei Tage später kam übrigens eine Mail von der Berechnungsstelle, die mir eröffnete, neuerdings wäre es laut Mitteilungsverordnung notwendig, die Daten über Zahlungen an Dritte (das bin ich) grundsätzlich an die Finanzbehörden zu übermitteln, und ich möchte doch bitte nochmal alle meine Daten inklusive Geburtsdatum und Identifikationsnummer rüberschieben, siehe Anhang. Was ich dann formlos beantwortet habe, und siehste, auf einmal tummeln sich wieder dreistellige Summen auf meinem Taschengeldkonto. Was mach ich jetzt damit?