Bewährung, Geldstrafe, Freispruch

Ich musste über drei Männer urteilen.

Krischan am

Gestern also mein erster Gerichtstermin. Bin extra zeitig aufgestanden, nach einer unruhigen und wenig erholsamen Nacht, um auch wirklich rechtzeitig da zu sein, auch für den Fall, dass im Schul- und Berufsverkehr die Bahn mal wieder überall steckenbleiben sollte. Aber halb acht ist in Berlin ja noch gar kein Berufsverkehr, also war die Bahn pünktlich nach einer halben Stunde da und ich konnte nochmal ein bisschen die Turmstraße hoch- und wieder runterlaufen. Vielleicht erwische ich ja irgendwo noch einen Bäcker oder war da nicht irgendwo ein Rewe? Bei Kamps konnten sie mir aber auf meinen Fuffi nicht rausgeben, also nüscht. Das Nebengebäude mit der schicken retromodernen rotweißen Fassade war eingerüstet, zudem steht die Sonne am frühen Morgen ungünstig für ein Foto.

Punkt halb neun war ich zurück im Kriminalgericht, hab der Sicherheitstante meine Ladung und meinen Ausweis gezeigt, worauf sie mir freundlich erklärt hat, wo ich lang und hin muss: einmal hier um die Sicherheitsanlage rum und dann links mittlerer Gang. Wusste ich ja schon, konnte sie aber nicht wissen. Oder hat aus meiner neugierigen Miene geschlossen, dass ich noch neu bin. Musste ja auch erstmal gucken und zögern, wo genau ich jetzt durch das Drehkreuz muss oder doch weiter am Rand lang, weil direkt nach mir einer reinkam und zu einem am Rand liegenden Schalter lief, während am Diensteingang gar keiner der Sicherheitsleute stand, was aber nur daran lag, dass sich die o.g. Sicherheitstante mit dem Kollegen vom Eingang fürs Fußvolk unterhalten wollte und also mehr so in der Mitte stand. So dass sie mich schon so ein bisschen ranrufen musste. Siehste.

Die Tür zum Saal 138 stand schon offen, ich also rein. Der Saal ist nicht ganz so groß, wie ich vermutet hatte, links die Richterbank und eine abgeschirmte Sitzreihe, die so ein bisschen aussieht wie die Geschworenen-Bereiche in den englischen Krimis, in der Mitte ein paar Tische und Stühle, rechts die Besucher-Sitzreihen, davor ein Tisch mit den Justizbeamten. An der Decke ein großer Kronleuchter, im Raum lauter Leute, die sich unterhielten, offenbar waren schon alle da? Die Justizbeamte hat sich auf meine Auskunft hin, ich wäre hier als Schöffe geladen, meine Ladung angeguckt und meinte, ich solle nochmal draußen warten, hier wäre erstmal noch eine andere Verhandlung.

Draußen im Gang Bänke am Rand. Konnte ich nochmal meine Zettel sortieren. Die Tür zum Saal wurde geschlossen, es ging wohl los. Leute liefen vorbei und grüßten. Gehör ich jetzt dazu? Eine Frau guckte in den Saal und zog sich wieder zurück und setzte sich auf die Nachbarbank. Ist das die andere Schöffin? Ab und zu ging die Tür wieder auf und eine Justizbeamte rief etwas unverständliches, die Akustik der Gewölbegänge und die routinierte Floskel werden ihren Einfluss gehabt haben. Aber ich hab mir trotzdem auch nochmal meine Ohren durchgepustet. Muss ja später auch verstehen, was die Leute da vorm hohen Gericht vor sich hinstammeln. Ein weiterer Besucher stellte sich ein, später noch einer, und sie zogen sich ein paar Bänke weiter zurück: das wird doch nicht etwa der erste Angeklagte mit seinem Rechtsanwalt gewesen sein?

Ein paar Minuten vor neun waren sie fertig und die Schöffen dürfen jetzt in den Saal kommen. Freundliches Nicken in alle Richtungen, keine Ahnung, wer da wer ist. Aber die Frau von der Nachbarbank war tatsächlich die andere Schöffin. Wir sollten dann durch den schmalen Durchgang auf die Richterbank klettern und schonmal in den Beratungsraum dahinter gehen. Jacke aufhängen, Handy aus, Zettel und Stift raus, hinsetzen. Und dann ging’s eigentlich gleich los mit der Kurzvorstellung des ersten Falls. Kein langes Vorstellen, kein einleitendes Geplänkel, keine Erklärungen, sondern hopps! ab ins kalte Wasser. So soll’s sein.

Obwohl, erste Frage war schon noch die nach der Vereidigung. Ja, wir müssen beide noch vereidigt werden. Ein laminierter Text für den Schwur war vorhanden, wir durften ihn nochmal angucken, mussten ihn aber nicht auswendig lernen, weil wir später natürlich ablesen dürfen. Meine Kollegin war kurz erstaunt, dass der Schwur erst am Anfang der Verhandlung stattfinden soll, und nicht im stillen Hinterzimmer, vor wenigen Tagen war mir das ja auch noch neu. Aber sie hat ihren Termin zur Einführung ja erst nächste Woche, auch im Großen Konferenzsaal. Und die nächste neue und schon mit Spannung erwartete Information war die, dass wir hier jetzt in der Rauschgiftabteilung sind. Oder hat er Drogenkriminalität gesagt? Und dass heute gleich drei Fälle zu verhandeln seien.

Dann aber. Kurze Einführung in den Fall. Filmreife Geschichte um Glücksspiel, Drogenkauf, Vollrausch, Streitereien und herumliegende Waffen. Im Saal durfte ich dann links neben dem Richter sitzen, neben mir am Fenster die Staatsanwältin, rechts die andere Schöffin und daneben die … wie heißt die, die immer alles mitschreibt und nach der Einigung auch ins Beratungszimmer gerufen wird, um das Urteil aufzusetzen und auszudrucken? Die Schöffin durfte zuerst schwören und war hörbar aufgeregt, danach war ich dran und hab auch nicht hundertprozentig verhasplerfrei abgelesen, aber da ich ja den religiösen Nachsatz weggelassen habe, hatte ich auch weniger Gelegenheit. (Hab ich in meinem Leben schonmal was geschworen? So richtig offiziell? Bei den Pionieren? Bei der FDJ? Beim Zivildienst? Beim öffentlichen Dienst? Beim Studium? Ich meine mich an irgendwas zu erinnern. So ein »das geloben wir«.)

Als erstes verliest ja immer die Staatsanwältin die Anklage, worauf der Verteidiger sich zum Tathergang äußert. Dann wird vom Richter die Beweislage erörtert. Vorher hat er sich beim Angeklagten noch nach dem familiären Hintergrund erkundigt, nach Schulabschluss und Beruf und Einkommen und anderen Aspekten der aktuellen Lebenssituation, insbesondere auch zur Entwicklung des Drogenkonsums und was so alles geplant ist, um aus dieser Situation wieder herauszukommen. Dann wurden die Gutachten verlesen über die aufgefundenen Drogen und deren Wirkstoffgehalt, über die Waffen und was sonst noch so eingesackt wurde, in die Akten hineinkopierte Fotos der beschlagnahmten Sachen wurden uns auch noch gezeigt.

Nach der Beweisaufnahme plädierte die Staatsanwältin und wies einige der gefallenen Aussagen als Schutzbehauptung zurück und forderte Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren, sodass die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Danach plädierte der Rechtsanwalt und wies das mit der Schutzbehauptung wiederum zurück und legte nochmal Gewicht auf die entlastenden Punkte und die positive Sozialprognose. Dann zogen wir Richter uns zur Beratung zurück. Die kleine Tür zum Beratungsraum ist eine Doppeltür, deren beide Hälften nun geschlossen wurden. Das weitere darf ich nicht näher berichten. Wir waren aber schnell fertig, die Protokollführerin wurde gerufen, klackerte auf dem alten Rechner in der Ecke einen Text fertig, druckte ihn aus und wir stellten uns zur Urteilsverkündung auf. Haftstrafe auf Bewährung, Auflage der gemeinnützigen Arbeit, Haftverschonung. Hinsetzen, nähere Erläuterung. Fertig.

So schnell geht das. Hätte ich an der einen Stelle noch was fragen sollen? Hätte ich an einer anderen Stelle auf dies oder das drängen sollen? Hätte ich nochmal fachlich nachfragen müssen und Erklärungen einfordern sollen? Das ist alles so neu für mich, das Thema selbst, aber auch die Abläufe, die Beurteilungsrahmen und die üblichen Zusammenhänge. Und der Richter ist sehr routiniert und hat kein Interesse, unnötig Zeit zu verlieren, keine Ahnung, wie sein Arbeitspensum aussieht, aber Rauschgift und Berlin, das kann man sich schon vorstellen. Und für mich gab es keinen konkreten Anlass, an irgendeiner Stelle zu intervenieren. Und das ist ja als Schöffe meine eigentliche Aufgabe: da mit dem fachfremden Auge und dem gesunden Menschenverstand des bodenständigen Mannes von der Straße draufzugucken und einzuschreiten, wenn was schiefläuft oder zurechtzubiegen, wenn was einseitig wird. Oder so. Ohne fachliche Kenntnis. Und da hat’s bei mir nicht geklingelt.

Aber keine Zeit zum Grübeln, zackzack! nächster Fall. Filmreife Geschichte um einen Jugendlichen mit nicht unerheblichem Drogenbesitz, der von seinem Bruder verpfiffen wurde. Die Verteidigung führte an, dass der Angeklagte den Besitz der Drogen zugibt, die Mengen aber tatsächlich nicht für einen Handel gewesen seien, weil der Eigenbedarf sehr hoch gewesen sei, er inzwischen eine Therapie hinter sich habe, auch eine Ausbildung sei jetzt über das Jobcenter in Planung. Der Bruder ist als Zeuge erschienen, macht aber von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Die Staatsanwältin sah in den aufgefundenen Verpackungen und der Feinwaage Indizien für einen Handel mit Drogen, gab aber zu, dass das nicht als Beweis taugt. Wir haben uns auf eine Strafe geeinigt, die unterhalb der Forderung der Staatsanwältin lag, der Angeklagte und sein Anwalt sind einverstanden, und Pause. Das ging ja noch viel schneller.

Bis zum dritten Termin waren jetzt vierzig Minuten Zeit. Die Schöffenkollegin hat Saft für uns alle mitgebracht, aber es fanden sich im Beratungszimmer keine Gläser oder Becher. Sie wollte sich auf die Suche nach der Schöffenvertretung machen, mit der sie schon so viel telefoniert hatte, ich hab mich in der Zwischenzeit auf die Suche nach der Cafeteria gemacht und versprochen, von dort Becher für den Saft mitzubringen. Das Werbeplakat im zentralen Eingangs-Treppenhaus verwies auf die 5. Etage im Haus C und zeigte die grobe Richtung. An einer Wand gab es auch einen Pfeil zu den Häusern. Gang hinter, um die Kurve, ich kam noch ganz unverhofft an der Rechnungsstelle vorbei, wo ich dann meine Zettel abgeben muss, damit mein Arbeitgeber und/oder ich die Zeitversäumnis und Dienstausfall ersetzt bekommen. Halbe Treppe hoch, durch einen Verbindungsgang rüber ins Haus C, einen weiteren Gang hinter, Fahrstuhlknopf gedrückt, hochgefahren, schon stand ich direkt vor der Cafeteria. Die Holde anrufen und berichten, belegtes Brötchen kaufen und nachfragen, ob es okay sei, drei leere Pappbecher mitzunehmen. Ja. Hinsetzen, beim weitertelefonieren knistern und mampfen. Den Weg zurück fand ich, stellte dabei aber fest, dass das Erdgeschoss des Gebäudes C zu tief ist für den Übergang in das andere Gebäude, ich hätte also nur bis in die 1. Etage runterfahren müssen. Sah also wirklich anders aus beim Aussteigen aus dem Fahrstuhl.

Die Schöffin war auch schon wieder da und bot mir ein Bonbon an. Dann wurde der Saal schon wieder aufgeschlossen. Ich hab nochmal schnell ein Foto vom fast leeren Saal gemacht, wir haben nochmal Namen und Telefonnummern ausgetauscht, dabei wurde mir erklärt, dass ich die Nummer der Geschäftsstelle ja schon habe, die stehe ja in der Geschäftszeichenzeile der Ladung, die wollte ich ja nochmal wissen zum Anrufen, falls Verspätung oder Verhinderung oder so. Und ich muss ja auch nochmal meine Kontaktinformationen anpassen, weiß gar nicht mehr, was ich anfangs alles angegeben habe, und jetzt hat sich ja meine E-Mail-Adresse geändert.

Saal 138

Der letzte Fall könnte länger dauern, es gab sieben Zeugen. Filmreife Geschichte um eine große Menge Drogen im Kofferraum eines PS-starken Autos mit einem Fahrer, der aber gar nicht der Halter des Autos war und nichts vom Inhalt des Kofferraums wusste. Hier gibt’s jetzt auch Publikum, zwei Männer, die vermutlich zum Angeklagten gehören. Als erste Zeugin tauchte die Frau auf, die den Polizeieinsatz eigentlich »nur« veranlasst hatte, weil der Fahrer sich im Straßenverkehr sehr auffällig und gefährlich bewegt und sie nach einer Ansprache aufs wüsteste beschimpft habe. Als zweiter Zeuge tauchte ein Polizist auf, der bei der Festnahme dabei war, sich nach zweieinhalb Jahren aber nur noch schlecht erinnern kann, den Ablauf daher in den alten Berichten nochmal nachgelesen hatte. Er verhedderte sich in kleinere Widersprüche, die der Verteidiger ihm aber nicht durchgehen ließ. Eine weitere Zeugin ist nicht erschienen: die Halterin des Autos. Kurze Überlegung, ob man einen weiteren Termin anberaumen solle, aber aus der Aktenlage ging hervor, dass sie ohnehin nicht vorhabe, etwas zu auszusagen. Also Beweisaufnahme abgeschlossen. Staatsanwältin plädierte auf Freispruch wegen mangelnder Beweise, Verteidiger hatte dem nichts hinzuzufügen, wir auch nicht. Freispruch. Fertig.

Halb zwölf. Das war’s also für den ersten Tag schon. Und das nächste Mal werden es wieder drei Verhandlungen in Folge sein. Vielleicht bilde ich mich bis dahin doch schonmal ein bisschen und lese mich in die Materie ein? Was so die üblichen Strafen sind unter Berücksichtigung von diesem und jenem? Guck ich mal.

Hatte ich erwähnt, dass die Staatsanwältin in der Pause mein schönes Hemd gelobt hat? Das weiche dunkelblaue mit dem leicht asiatisch anmutenden Muster aus locker verteilten Blümchen in Orange und Hellgrün? So eins müsse sie ihrem Mann auch besorgen. Oder war das eine versteckte Kritik an unangemessener Kleidung? Ach Quatsch.

Munter schwatzend ab.

Ich hatte im übrigen meinen Schlüssel vergessen, wie mir meine Holde schrieb, die nun grad schwimmen sei, also konnte ich in der frühlingshaften Sonne vorm Haus auf der Bank vom Späti sitzen und genüsslich ein Plombir schlecken. Fetzt das? Das fetzt.