Noch ein neuer Saal: die 105. Wie vermutet im ersten Gang links. Hat mir der Beamte am Einlass aber diesmal gar nicht gesagt, der hat nur geguckt und nochmal geguckt und das richtige Datum in den Folgeterminen der Ladung gefunden und dann genickt. Kaum weiß man mal nicht schon vorher, wo man hinmuss, sagts einem auch keiner. Nuja. Meine Vermutung hat mich zum ersten Gang links geschickt, dort aber Absperrgitter und lauter Uniformierte, da wurde wohl was mit Fluchtgefahr verhandelt, konnte also nicht meins sein. Dahinter vielleicht. Also außen rum, durch den mittleren Gang und dann zweimal links. Im Treppensaal oder Vestibül oder so hängt zwar ein Plan an der Wand, der aber keine Raumnummern verrät. Zwischen meiner alten 138 und der neuen montäglichen 135 jedoch ein Gebäudeplan mit Raumnummern drauf, und siehe da, die 105 tatsächlich wie vermutet im ersten Gang der zweite Saal.
Dort sahs freilich, wie man hier unscharf erkennen kann, genauso aus wie wohl überall im Erdgeschoss des Hauses A. Nein, links neben der Tür ein Monitor, auf dem ein Windows-Desktop zu bestaunen war. Kann man da vom Saal aus dynamische Anzeigen generieren? Oder Live-Übertragung aus dem Saal? Auf dem Zettel am Zettelbrett die vier Namen und das Geschäftszeichen als einzige Verhandlung des Tages. Noch zwanzig Minuten Zeit, nochmal fix aufs Klo, das ich aber wieder im zweiten Gang aufsuchen musste, weil hier vorne nur welche fürs Personal, da bin ich nicht mitgemeint. Nebenbei ein neugieriger Blick auf den am Absperrgitter hängenden Zettel: der Name des Angeklagten sagte mir nichts, aber ich kenn die schlimmen Schwerverbrecher Berlins ja schließlich auch gar nicht. Jedenfalls nicht namentlich, höhö.
Eine Bank weiter im Gang wartete die ganze Zeit schon eine Frau mit einer Tochter im Kita-Alter. Die Mutter sprach mich irgendwann an, ich sei doch bestimmt ein Rechtsanwalt, worauf ich verneinen und ihr kurz wiederholen und erklären musste, dass ich ein Schöffe sei und was das denn sein solle, so eine Art Hilfsrichter, ein ehrenamtlicher Richter; das merkwürdige Wort kennt ja vermutlich keiner, der noch nie mit einem in Kontakt gekommen ist, und wer des Deutschen nicht gänzlich mächtig ist, wohl erst recht nicht. Jedenfalls hatte sie dann keine weiteren Fragen mehr, und das Kind begann, aus Langeweile leise vor sich hin zu singen.
Eine Justizbeamtin erschien, schloss die 105 auf und hinter sich gleich wieder zu. Ich soll ja immer eine Viertelstunde vor Termin dasein, und nun war ich der einzige? Und gerade als ich überlegen wollte, aus welcher Perspektive ich das schöne altmodische Wartebereich-Schild hinter der Glastür im Gang am besten fotografieren könnte, kamen die Angeklagten und Begleiter und mindestens einer der Rechtsanwälte um die Ecke. Ein oder zwei Gesichter kamen mir schon bekannt vor, evtl. wurde ich ebenfalls erkannt, ich habe auch ganz vorsichtig geguckt und dezent grüßend genickt, vermutlich hätte ich das sowohl freundlicher als auch unverbindlicher machen müssen, aber wichtig ist ja letztlich nur, außerhalb des Verfahrens nicht mit den Beteiligten zu sprechen, jedenfalls nicht über die Verhandlung. Kurz darauf kam aber eine weitere Person mit Schlüssel und schloss auf und ich folgte ihr in den Saal. Und wurde von der Protokollführerin freundlich aufgefordert, einzutreten, ich dürfe auch schon Platz nehmen, wer ich war, musste ich aber wieder mal nirgends nachweisen. Spätestens die Beisitzerin, der vorsitzende Richter und der andere Schöffe, die bald danach auftauchten, kannten mich jedoch vom letzten Mal.
Ich war noch beim Sortieren meiner Blättersammlung und dem Vorbereiten meiner Mitschrift, da gings auch schon los mit der Einführung. Wir hätten ja jetzt einen sprechfähigen Staatsanwalt und ein weiterer von den Angeklagten hätte nun demnächst ein zusätzliches Verfahren anhängig, den könne man wohl einstellen, und ob es Verständigungen geben könne bei den anderen, das wäre noch zu klären. Während die Richter sich mit dem Staatsanwalt und den Rechtsanwält:innen schonmal in Kontakt setzten, hab ich mir mit dem andern Schöffen, der sich übrigens als ehemaliger Erfurter entpuppte, noch ein bisschen die Poster angeguckt, die hier im Beratungszimmer hingen: eine Darstellung des Potsdamer Platzes in den Zwanziger Jahren, wo ich erst unsicher war, welcher Platz das sein solle, aber die Ampel in der Mitte ist dann doch eindeutig; die Beschriftung in der unteren Ecke auch. Schon beim Reinkommen hatte ich die rote Gruseloma von Dix erkannt, und in einer weiteren Ecke hing noch ein expressionistisches Bild, das ebenfalls Potsdamer Platz hieß und von einem aus der Brücke-Gruppe sein könnte. Auch sonst machte dieser Beratungsraum einen noch netteren Eindruck als schon der von der 135 gegenüber dem der 138, heller, sauberer, sinnvoller und weniger abgegriffen eingerichtet, die Messingteile der Lampen glänzend. Warum ist das so unterschiedlich? Die Helligkeit zumindest kommt vielleicht daher, dass die Fenster zwar nach Norden, aber zur Straße hinaus gehen, die breiter ist als der Innenhof.
Im Saal dann also Vorbesprechungen in Anwesenheit des Staatsanwaltes und der Rechtsanwält:innen. Besucher saßen auch schon da, möchte ich meinen. Nach den ersten Sätzen wurde das Fenster zur Straße geschlossen, wegen der Akustik, und auch für den direkt darunter sitzenden Rechtsanwalt bestünde dann eine geringere Unfallgefahr. Angeklagter #1 sollte ja eigentlich, und wie beim letzten Mal sogar schon verkündet, eine bewährungsfähige Strafe bekommen, die Staatsanwaltschaft hatte hier aber doch kein Interesse an einer Verständigung, da gab es wohl Missverständnisse und falsche Kommunikationen, Bitte um Entschuldigung, zudem sei eine neue Tat hinzugekommen. Für den Angeklagten #3 hingegen sei eine bewährungsfähige Strafe von 10 bis 14 Monaten vorstellbar, ebenso beim Angeklagten #2, der sich offenbar während der hier verhandelten Tat bereits in einer verlängerten Bewährungszeit befand, nanu.
Die Angeklagten wurden hinzugebeten. Einer wurde wieder von den Justizbeamten durch den Seiteneingang in die abgetrennte Holzbank hereingebracht, der Angeklagte #5, der sich wohl neulich erst wieder auf frischer Tat ertappen ließ und nun in Untersuchungshaft saß. Der Richter eröffnete den Besuchern, dass er keine kleinen Kinder im Saal haben möchte. Nach einer deutlichen Wiederholung dieser Ansage ist die Mutter mit dem Kind dann aus dem Saal verschwunden. Kannste nix machen. Inzwischen fragte der eine Rechtsanwalt nach einem Dolmetscher. Es war gar keiner geladen. War letztes Mal einer da? Nö. Warum wusste niemand, dass einer gebraucht wird? Das war doch auch der Angeklagte, mit dem es zuletzt die Verständigungsschwierigkeiten über seinen Namen und seine Adresse gab. Unterbrechung für fünfzehn Minuten, der Richter wollte versuchen, einen Dolmetscher ranzuholen. Ich hab in der Zeit festgestellt, dass der Saal doch ein wenig anders aussieht, als die anderen beiden: kein Kronleuchter in der Mitte, sondern nüchternere Lampen, über der Richterbank dieselben wie im Beratungszimmer, über der Saalmitte eine ähnliche Konstruktion. Dafür ist die Decke selbst viel schöner, weil nicht glatt und einfarbig, sondern in einem dezenten Grün gehalten und mit einer jugendstilig angehauchten verschlungenen Stuck-Borte in Weiß verziert.
Dann wollten wir die Zeit der Unterbrechung für eine Beratung nutzen. Der Richter telefonierte aber stattdessen einem Dolmetscher hinterher, von dem er herausgefunden hatte, dass er vor wenigen Minuten erst eine Verhandlung verlassen hatte, erreichte aber nur die Mailbox. Dann wurde er von einer Rechtsanwältin wieder in den Saal gerufen, und wir folgten ihm schließlich, nix mehr mit Beratung. Die Angeklagten sollten wieder hereingerufen werden, aber die Justizbeamtin war gerade allein, der Kollege wollte ein Mikrofon für den Dolmetscher holen; die Angeklagten bekommen ja immer so Kopfhörer, während der Dolmetscher leise in ein Mikro spricht. Alleine konnte sie den U-Haft-Angeklagten jedenfalls nicht hereinholen, also noch kurz warten, kein Problem. Der Kollege kam auch bald zurück und erhielt für seine Mühe ein Lob des Richters, das Ding wäre jetzt aber gar nicht mehr notwendig, kein Dolmetscher da.
Der vorsitzende Richter verlas nun die Beschlusslage, schön langsam, damit die Protokollführerin auch hinterherkäme, aber die hatte gar keine Probleme mit der zwischendurch doch deutlich gestiegenen Geschwindigkeit, erwiderte sie auf die ab und zu eingestreuten Rückfragen. Jedenfalls hieß es, der Anwalt des Angeklagten #3 teile mit, dass der Mandant einen Dolmetscher brauche. Warum das dem Gericht nicht früher mitgeteilt worden sei, könne er nicht sagen. Zudem seien in den Vorgesprächen vor der Hauptverhandlung und während der Unterbrechung folgende Erwägungen getroffen worden:
– Das Verfahren gegen den Angeklagten #5 könne nach § 154 der Strafprozessordnung vorläufig eingestellt werden, die Staatsanwaltschaft habe dem zugestimmt.
– Der Angeklagte #1 könne für die hier verhandelte Tat in Verbindung mit einem zurückliegenden Urteil eine Gesamtstrafe von zwei Jahren Bewährung erwarten, die Staatsanwaltschaft wolle hingegen diese Strafe nur ohne Einbeziehung der bereits rechtskräftigen Strafe sehen, zudem seien weitere Verfahren anhängig, der Staatsanwalt hat das Aktenzeichen dazu herausgesucht … und lange nicht gefunden, er solle sich aber nicht beobachtet fühlen, so der Vorsitzende. Der Rechtsanwalt hatte jedenfalls schon Akteneinsicht und eine Anklage sei geplant.
– Dem Angeklagten #3 sei der Vorschlag von zehn bis 14 Monaten mit Aussetzung auf eine dreijährige Bewährung gemacht worden, der Staatsanwalt würde da auch mitgehen, der Rechtsanwalt hingegen verkündete, der Angeklagte bestreite die Vorwürfe und stimme der Verständigung nicht zu.
– Dem Angeklagten #2 schlage der Richter eine Strafe von 16 bis 18 Monaten vor, auszusetzen auf eine dreijährige Bewährungszeit, das Urteil aus dem Jahr 2023 könne dabei einbezogen werden, die Staatsanwaltschaft sei einverstanden, die Rechtsanwältin teile mit, dass sich der Angeklagte dem Vorschlag anschließe, die Tat jedoch bestreite.
Damit war das Verfahren gegen #5 vorläufig eingestellt, die Kosten trägt der Staat, die Auslagen trägt der Angeklagte selbst, der auch wieder zurück in die U-Haft geführt wurde. Der Rechtsanwalt wurde entlassen, aber leider habe er wohl nicht den Rest des Tages frei. Das Verfahren gegen #1 wurde abgetrennt und werde am nächsten schon anberaumten Termin fortgesetzt, nächste Woche selbe Stelle, aber ein paar Minuten früher. Das Verfahren gegen #3 wurde abgetrennt und die Hauptverhandlung ausgesetzt, ein neuer Termin sei von Amts wegen noch zu verkünden.
Und zu #2 hätte die Beratung ergeben, dass die Verständigung nur gelten könne, wenn ein glaubhaftes Geständnis erfolge, zudem müsse eine Einziehung nach den gesetzlichen Vorschriften erfolgen. Der Angeklagte wurde dann nochmal über diese sogenannte Verständigung belehrt und in welchen Fällen die Bindung des Gerichts an diese Verständigung entfalle, nämlich wenn sich wichtige Gründe für eine Neubewertung der Tat ergäben oder wenn sich der Angeklagte nicht wie durch die Einigung prognostiziert verhalte. Der Staatsanwalt stimmte zu, die Rechtsanwältin verlas nach kurzer Rücksprache die Erklärung ihres Mandanten, die Anklage sei zutreffend, was die Tat am besagten Tag und seine Person betreffe, das war der Einbruch in den O2-Shop.
Daraufhin hat der Richter nochmal die von der Rechtsanwältin geborgten Registerauszüge verlesen, eine lange Liste an Vorstrafen, beginnend als Jugendlicher mit Diebstahl, Urkundenfälschung und Raub und in Folge Jugendarrest, später Hausfriedensbruch, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Angriff und Beleidigung von Beamten und daraufhin Geldstrafen. Aber zum Schluss wurde es seltener. Die letzte Geldstrafe ist bereits vollstreckt, auch das Urteil, das hier mit einfließt, wurde nochmal verlesen, eine Körperverletzung nachts am Taxistand wegen nix und wieder nix, so sehr betrunken waren sie doch gar nicht, herrje, aber im Nachgang haben sie sich alle umgänglich gezeigt, nagut.
Der Staatsanwalt hat plädiert. Geständnis und damit Ersparnis der langwierigen Beweisaufnahme, schon unter Bewährung während der Tat, wenn auch aus anderen Gründen, angemessen wäre ein Jahr, unter Berücksichtigung der vorherigen Tat, für die eine Strafe von 11 Monaten ausgesprochen worden war, dann zusammen 17 Monate. Da die Tat lange zurückliege und die Sozialprognose inzwischen positiv ausfalle, sei die Strafe auf drei Jahre Bewährung auszusetzen.
Die Rechtsanwältin hat plädiert. Sie habe sich eigentlich auf eine langwierige Auseinandersetzung vorbereitet, die Beweislage sei ja doch recht dünn. Sie halte eine Strafe am unteren Ende der Skala für angemessen, da die vorherige Bewährung nicht einschlägig sei, weil der Rahmen aber mit 16 bis 18 Monaten recht eng war, hat sie die 16 Monate gefordert, die drei Jahre Bewährungszeit fand sie auch angemessen. Der Angeklagte wollte gar nichts sagen.
Wir haben uns dann recht fix auf die in der Mitte der Spanne liegenden 17 Monate geeinigt. Die Einziehung der Taterträge nicht zu vergessen, das war mit den vielen Handys und dem Bargeld eine mittlere fünfstellige Summe. An dieser Stelle der Urteilsverkündung kam, so mein Eindruck aus den Augenwinkeln, etwas Bewegung in den nun Verurteilten und seine Anwältin, vielleicht hatten sie das nicht ganz so auf dem Schirm, dass er nun die gesamte Summe zurückzahlen soll, aber da er die Schuld ganz allein auf sich genommen hat, ist das ja kaum anders zu regeln, er hätte sonst gern auch Einlassungen zu den Mittätern machen können. Der Angeklagte trägt zudem die Kosten des Verfahrens und seine Auslagen. An den Fortsetzungsverhandlungen, zu denen er eigentlich geladen wurde, muss er nun aber natürlich nicht mehr teilnehmen. Eine kurze Belehrung zur Bewährung im allgemeinen und zu der Chance, sich nach einem Geständnis mit seiner Tat auseinanderzusetzen, musste er sich jedoch noch anhören. Nicht ganz so schablonenhaft wie letztes Jahr die in der Drogenabteilung, aber vermutlich auch nicht ganz so fließbandmäßig aufgesagt. Rechtsmittel sind selbstverständlich zugelassen.
Das wars. Reichlich anderthalb Stunden hat sich das ja doch hingezogen. Ein Justizbeamter kam noch nach hinten, er solle irgendwelche Akten irgendwo hinbringen, ja richtig, da war so ein Aktenwagen, der Richter hat auch gleich seine Aktentasche mit reingelegt, und wir konnten alle durch die frisch aufgeschlossene Tür vom Beratungszimmer direkt in den Flur schlüpfen. Da fiel mir wieder ein, dass wir ja noch die Nachweiszettel für die Berechnungsstelle bekommen sollten, der Richter hatte auch mitten in seinem Diktat einen Stapel solcher Zettel unterschrieben, also bin ich vorne nochmal rein in den Saal, aber da war schon gar keiner mehr da. Naja, von mir aus können wir das auch beim letzten Termin des Verfahrens abhaken, die Uhrzeiten hab ich mir notiert. Flugs hinter den anderen her, die einfach an der Absperrung des Nachbarsaals vorbei nach draußen gegangen sind. Wenn man wie ein Richter aussieht (oder als einer erkannt wird) und die Justizbeamten in ein freundliches Geplänkel verwickelt, geht das.
Tschüss und bis nächste Woche, die beiden Berufsrichter wollten zusammen Mittagessen gehen, da wäre so ein Nepalese um die Ecke, der andere Schöffe hat sich in Richtung S-Bahn verabschiedet, und ich bin zur Straßenbahn geseppelt.