Der schon mehrfach unterbrochene Fall nochmal. Mit dem vom Bahnhof abgeholten Besuch und dem untergestellten Gepäck und dem geliehenen Auto und den Feinwaagen für die Ernährung der Tochter und den Drogen, die dem Angeklagten nicht gehören.
Da war letzte Woche nun der letzte Termin, die beiden Polizisten, die den Fall damals ins Rollen gebracht haben, waren nochmal als Zeugen geladen und diesmal auch beide da. Einer gleich pünktlich, der andere leicht verspätet, er war noch beim Einparken. Auch der Angeklagte hat sich um drei Minuten verspätet, er sei noch in der Sicherheitsschleuse, hieß es, als es Punkt zwölf losgehen sollte. Bei uns im Saal 138 waren sich unterdessen wegen der spätsommerlichen Hitze alle einig, dass es mal wieder ohne Robe ginge. Staatsanwältin, vorsitzender Richter und Rechtsanwalt (und Protokollführerin, wie ich gerade nachlese) sind ja sonst an strikte Kleidervorschriften gebunden, aber offenbar kann der Richter in Einzelfällen davon absehen und eine Verhandlung auch ohne Roben erlauben. Mir solls recht sein.
Dann gings aber gleich los mit der Zeugenbefragung. Zeuge eins also einer der Polizisten, die damals als Zivilstreife unterwegs waren und denen das Auto auffiel, das da so doof auf der rechten Spur herumstand, das aber erstmal ignoriert wurde, weil vielleicht nur ein Uber-Fahrer, der auf seine Kundschaft wartet. Später stand das Ding aber immer noch genauso da, da wollten sie denn doch mal genauer nachgucken. Normale Verkehrsüberprüfung oder wie das heißt. Der Beschuldigte sei auffallend nervös gewesen und hätte gestottert, hätte der Untersuchung seines Autos aber zugestimmt. Dort im Kaffeebecher in der Mittelkonsole dann besagte Tütchen mit weißer Substanz, aber auch der daraufhin angefragten Untersuchung der Wohnung hätte er wieder zugestimmt, so dass eine richterliche Anordnung gar nicht nötig wurde. Dort dann der Fund weiterer Drogen in einer Styroporbox, wie sie etwa von Essens-Lieferdiensten verwendet wird, sowie Verpackungsmaterialien und das viele Geld. Der Zeuge war bei keinem Fund anwesend, er meinte sich aber an 200-Euro-Scheine zu erinnern.
Die Staatsanwältin fragte nochmal nach den genauen Fundorten der Box in der Wohnung und dem Geld im Auto, nach der Waage und dem Smartphone sowie nach der Verständigung mit dem nicht fließend Deutsch sprechenden Angeklagten. Sehr genau waren die Erinnerungen des Zeugen nach drei Jahren aber natürlich nicht mehr, nur das eine Handy war etwas speziell, das wusste er noch. Was das wohl bedeutet.
Der akustisch immer noch schlecht verständliche Rechtsanwalt erkundigte sich, ob eine Halterabfrage stattgefunden hätte, denn das Auto sei ja gar nicht das des Angeklagten gewesen, der Zeuge gab aber an, dass er das nicht mehr genau wisse, und es wäre auch der Kollege gewesen, der das Gespräch geführt hätte.
Also Zeuge zwei, der Kollege. Verkehrsrechtliche Prüfung des Fahrzeugs. Der Angeklagte wollte wohl anfahren, als das andere Fahrzeug neben ihm hielt, das wurde aber verhindert, indem sich die Streife mit ihrem Fahrzeug schräg vor das des Angeklagten stellte. Nachdem sie sich dann als Polizei zu erkennen gegeben haben, hätte der Beschuldigte angegeben, er warte auf einen Freund, und hätte nervös zitternd seine Dokumente vorgewiesen. Im Fahrzeug gehöre ihm außer seinem Handy und seinem Portemonnaie nichts, gegen eine Durchsuchung hätte er also nichts einzuwenden. Und gegen die Durchsuchung seiner Wohnung hätte er auch nichts, er hätte nichts zu verbergen. Dort hat der Zeuge dann eine Geldkassette mit zweitausend Euro gefunden. Die Drogen und das andere Geld seien von den hinzugezogenen uniformierten Kollegen gefunden worden. Auf Rückfragen wusste er nicht mehr, ob der Becher im Auto mit einem Deckel verschlossen gewesen sei, und an das aufgefundene Verpackungsmaterial erinnerte er sich erst nach einer Sichtung der Bilder aus der Akte.
Die Staatsanwältin erkundigte sich kurz nach dem Fluchtverhalten des Angeklagten, aber da die Streife ja zivil unterwegs war, war da nichts zu holen. Sie hat dann noch ein paar Passagen aus den Ermittlungsakten abgeklärt, die von den Zeugen über die Aussagen des Angeklagten gemacht wurden. Dieser wollte das Auto mit den Drogen wohl einem Freund übergeben, von dem er wisse, dass er drogenabhängig sei. Das Geld im Auto, zusammen etwa hundert Euro, sei szenetypisch gestückelt gewesen. Was das wohl bedeutet.
Der Rechtsanwalt versuchte daraufhin herauszufinden, wie brauchbar die Einwilligungen eines Angeklagten in die Durchsuchungen gewesen sein können, der nicht fließend Deutsch spricht und sich bei allen folgenden Gesprächen immer durch einen Dolmetscher unterstützen lassen musste. Ob es eine Belehrung gegeben hätte. Das blieb etwas nebulös, an Details konnte sich der Zeuge nicht mehr erinnern, aber an die Gesamtsituation und das prinzipiell erkennbare Einverständnis. Hm.
Damit waren die Zeugen entlassen. Dass der Angeklagte laut Registerauszug ohne Vorstrafen ist, wurde nochmal geprüft.
Nun konnte die Staatsanwältin ihre Sicht vortragen: der Sachverhalt stünde fest, der Angeklagte sei schuldig zu sprechen. Was sie unter anderem an Details und Schlussfolgerungen festgemacht hat, die ich für keineswegs zwingend halte und zum Teil eine etwas schräge Sicht voraussetzen: die Behauptung, die anderen Zeugen hätten besagten Karton als Pappkarton erkannt, stehe im Widerspruch zur Beobachtung der Polizisten über eine Styroporbox – das widerspricht meinen Aufzeichnungen, in denen sich die anderen Zeugen zwar einig waren über Größe und Form der Kiste, aber eben explizit nichts genaues über das Material sagen konnten; die Behauptung, man würde keine Gäste einladen, wenn man so viel Geld (in verschlossenen Kassetten) zu Hause habe, wirkte auf mich etwas befremdlich; die Nervosität bei einer Polizeikontrolle dürfte für viele Leute normal sein, erst recht für erkennbare Ausländer – ich für mich könnte das auch nicht ausschließen, mit einem Schuldeingeständnis hat das rein gar nix zu tun; dass ein Teil des Geldes zum Möbelkauf sei, wäre völlig abwegig, niemand würde seine Möbel mit Bargeld kaufen – hier hat die Richterin möglicherweise keinen Einblick in die Lebensrealitäten ärmerer Menschen, die eben nicht immer auf den klassischen Wegen einzukaufen pflegen, sondern auf Trödelmärkten oder unter der Hand … Der Angeklagte sei damit jedenfalls überführt und zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren zu verurteilen, das Bargeld und die Handys seien einzuziehen.
Der Rechtsanwalt wies noch einmal darauf hin, dass der Wagen geliehen sei und nichts darin dem Angeklagten gehörte, er den Durchsuchungen zwar zugestimmt habe, die Belehrungen dazu aber wegen der mangelhaften Deutschkenntnisse des Angeklagten nicht wirksam gewesen seien. Zudem sei die Auffindesituation in der Wohnung auch nach der Befragung der Zeugen weiterhin unklar, so dass eine Zuordnung der Drogen zu einer konkreten Person gar nicht möglich sei.
Der Angeklagte wünschte sich einfach nur Gerechtigkeit und Fairness.
Darauf haben wir Richter uns in das Beratungszimmer zurückgezogen. Es würde wohl zwanzig Minuten dauern. Diesmal war ja auch tatsächlich endlich mal etwas zu beraten: es gab kein Geständnis, keine klaren Beweise, aber eine Latte an Indizien und Zeugenaussagen aus mehreren Verhandlungstagen, das alles galt es zusammenzuklamüsern. Was wir dann im Detail besprochen haben, darf ich ja nicht erzählen, aber dass wir uns nicht einstimmig einig waren, darf ich vielleicht trotzdem andeuten. Das Ergebnis war nach einer Viertelstunde schließlich nichts anderes, als dass wir den Forderungen der Staatsanwältin zugestimmt haben. Denn obwohl sie sich da argumentativ etwas verhoben hat, musste in der Gesamtsicht der Fakten eine andere Schlussfolgerung, als den Angeklagten für schuldig zu erklären, abwegig erscheinen: das wären dann doch zu viele Zufälle auf einmal, einige der Einlassungen wirkten auch auffallend an den Haaren herbeigezogen, und zudem lag hier in nahezu allen Punkten ein geradezu szenetypisches Verhalten vor, etwa mit den geliehenen Autos und den Handys etc. Für das viele Geld gab es keine legalen Quellen, die ganze Familie lebt von Arbeitslosengeld, keine Einkünfte und keine Möglichkeit zu sparen. Die Version des Angeklagten passte einfach vorne und hinten nicht zusammen, im Gegensatz zu der trotz allem recht schlüssigen Argumentation der Anklage.
(Aber hat der Richter in seiner mündlichen Begründung dann wirklich das Wort »Übeltäter« verwendet? Was war denn da los an dem Tag?)
So richtig wohl fühle ich mich jetzt natürlich trotzdem nicht damit. Jemanden in den Knast zu schicken. Und gleich für zweieinhalb Jahre. Für so paar Drogen. Hab ja prinzipiell so meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit der aktuellen Drogenpolitik und -justiz, nicht zuletzt im Vergleich zum Umgang mit Alkohol und Nikotin, und auch am Konzept Gefängnis überhaupt, mit Hilfe und Prävention und Resozialisierung hat das ja nur bedingt zu tun, aber nichts genaues weiß ich auch nicht besser. Vielleicht gibts ja eine Berufung oder eine Revision, dazu hat sich der Rechtsanwalt noch nicht sofort geäußert, das Urteil ist also möglicherweise noch immer nicht rechtskräftig. Aber zu welchem anderen Schluss sollte eine höhere Instanz kommen? Hab ich eigentlich die Möglichkeit, das im Nachhinein noch rauszufinden? Guck ich mal. Frag ich nächste Woche mal. Da gehts ja schon wieder weiter.
Krischan am 7. Oktober 2024
Ich hatte beim folgenden Termin dann doch vergessen, nochmal nachzufragen, wie es mit der Rechtskräftigkeit des Urteils aussieht, aber auf meine E-Mail von vorletzter Woche hat der vorsitzende Richter nun persönlich geantwortet: es wurde Berufung eingelegt.
Krieg ich nun raus, wann und wo und mit welchem Ergebnis die dann abgeschlossen wird?