Am frühen Nachmittag war die Verhandlung angesetzt, die Bahn also nahezu leer und die Straßen auch, und so war ich mal wieder viel zu früh da. Eigentlich wollte ich mal das Eingangsportal knipsen, aber genau da stand natürlich eine einzelne Person mittig davor und rauchte, als gebe es kein Morgen und keine andere Stelle dafür, herrje, dann eben nicht. Hab ich noch kurz überlegt, ob ich einen kleinen Spaziergang machen sollte, muss ja nicht eine halbe Stunde im Gang rumsitzen, aber das war mir dann auch zu blöd. Also rin. Keine Schlange, kein Gedränge, das gibts nur früh gegen neune, wenn alle gleichzeitig ihre erste Verhandlung beginnen. Kurze Frage an der Schleuse, ob ich heute schon dagewesen wäre, keine Ahnung, wieso sich die Frage gestellt hat und was im Falle einer Bejahung anders gelaufen wäre, auf der Ladung stand eh nur der eine Termin um vierzehn Uhr drauf, dann jedenfalls wieder die gestisch untermalte Erklärung, wo die 135 zu finden sei, vielen Dank. Vielleicht sollte die Frage auch erkunden, ob ich überhaupt schonmal dagewesen wäre und dieser Wegweisung überhaupt bedürfe.
Bisschen rumsitzen also, ein paar Leute schlenderten vorbei, der Raucher von vorm Eingang tauchte auch auf und setzte sich, das wird doch nicht der Angeklagte sein? Ein Zeuge? Der andere Schöffe? Ein Justizbeamter schloss den Saal auf und verschwand, da wars noch lange nicht Viertel vor, also bin ich sitzen geblieben und habe ein bisschen mit meiner Holden getextet über die zu Hochform auflaufenden Heizungen direkt hinter den Banklehnen, die bei den frühlingshaften Außentemperaturen für kuschelige Wärme im Gebäude sorgten. Dann auf einmal der Richter in Begleitung einer schmucken jungschen Beisitzerin, erklärend auf den Aushangzettel deutend und dann eintretend. Eine weitere Person schlich schon suchend und den Gebäudeplan konsultierend in der Nähe herum, kam kurz vor mir in den Saal und stellte sich dem dort sitzenden Justizbeamten als Schöffe vor, so dass ich nur noch zustimmend nicken musste, jaja, ich sei auch so einer. Bei diesem anderen Schöffen musste es sich um einen noch recht unerfahrenen Ersatzschöffen handeln, so zögerlich stand er dann im Saal und war sich nicht sicher, ob er schon einfach so und ohne zu fragen die Richterbank betreten dürfe, aber der Richter war gerade damit beschäftigt, sich nach den Akten zu erkundigen. Wo die seien, wusste der Justizbeamte aber auch nicht, er sei nur hierher zitiert worden und davon ausgegangen, der Saal sei schon vorbereitet, und wo die Akten denn jetzt herzuholen seien.
Wir Richter (diese Formulierung muss ich immer bringen :) haben uns dann im Hinterzimmer zusammengefunden, der vorsitzende Richter hat sich unsere Namen notiert und ein bisschen über das neue Software-System und andere Bürokratie-Baustellen schwadroniert. Der Eingang zu einem anderen Gebäude wäre seit ewig nicht für Besucher freigegeben, weil ein Teil der Sicherheitsschleuse bzw. der Durchleuchtungsanlage fehle, so dass dort also nur Diensteingang wäre. Und die Geschichte mit dem Parkhaus des Gerichts, das wohl lange Zeit mit reservierten Parkplätzen und Tagesparkplätzen verschiedene sehr günstige Angebote für die am Gericht tätigen Autofahrer gehabt hätte, dann sollte es aber eine Umstellung geben, um einerseits die Preise zu erhöhen und andererseits von der öfters zu Verzögerungen führenden Barzahlung an der Schranke wegzukommen, was aber wohl wegen fehlender Umsetzung nur zur Unbenutzbarkeit geführt hätte. Teile des Parkhauses seien dann für Fahrräder freigegeben worden, das wäre ja auch gut, dass die nicht mehr als Haufen im Innenhof herumstünden, und verschiedentlich wurde über Abriss oder Umnutzung diskutiert, das eine wäre aber schwierig, weil das Parkhaus Teil der Außenmauer des Gefängnisses ist, und das andere wäre vermutlich noch sehr viel aufwändiger als ein Neubau. Also stehts jetzt offen, aber wohl nur für Leute mit Hausausweis.
Dann war die Protokollführerin da und die Akten auch. Kurze Einführung. Schon vorher hatte der Richter angedeutet, es ginge um Betrug bei Internetbestellungen, aber der Angeklagte sei geständig und auch ohne Vorstrafe, wenn er sich recht erinnere. Das wurde nun bestätigt, ein Geständnis sei vom Rechtsanwalt angekündigt worden, eine Verständigung sei aber noch nicht geplant, also ganz altmodisches Verfahren mit Anträgen von beiden Seiten. Dreißig Fälle jedenfalls, ein paar davon nur als Versuch, Schadenssumme eine niedrige fünfstellige Summe, also offenbar nix allzu großes. Dann kanns ja losgehen.
Der Richter hat uns dann wieder alle namentlich vorgestellt, auch deswegen hat er ja nach den Namen gefragt. Dann kurze Irritation und Heiterkeit bei der Abfrage der Personalien des Angeklagten – das war tatsächlich der Raucher vom Eingang –, weil auf die Frage nach der Anzahl der Kinder nur die Zahl dreizehn zu verstehen war, das war aber das Alter des einzigen Kindes, nicht die Anzahl. Die Akustik der schönen alten Säle wie immer etwas schwierig. Daraufhin hat der Staatsanwalt die Anklage verlesen, das war für mich besser verständlich, weil ich ihm am nächsten saß, dafür hat sich das ganz schön hingezogen, weil er natürlich alle dreißig Fälle einzeln beschrieben hat: wann bei welcher Firma was bestellt wurde und wann und mit welcher Masche der Angeklagte dann versucht hat, das Geld zurückzubekommen oder gar nicht erst zahlen zu müssen. Knapp zwanzig Minuten hat das gedauert, in denen ich mir natürlich ein paar Notizen gemacht habe, aber nebenbei auch entdecken konnte, dass im Saal 135 ebenfalls Stuck an der Decke klebt, hier aber einfarbig und als rein lineare Borte ohne Blüten- und Ranken-Anmutung.
Der Rechtsanwalt hat daraufhin erklärt, der Angeklagte räume alle Vorwürfe als zutreffend ein. Der Richter unterbrach ihn zwischendurch kurz mit dem Hinweis, er möge etwas langsamer sprechen, die Protokollführerin müsse auch hinterherkommen, was diese mit einem Grinsen quittierte. Weil sie sehr wohl hinterherkam? Aus Dankbarkeit? War übrigens nicht die vom letzten Mal und nicht die vom ersten Mal. Weiter also mit Erläuterungen der Umstände, finanzielle Schwierigkeiten, familiäre Situation, psychische und gesundheitliche Probleme. Der Angeklagte selbst bestätigte das wortreich mit weiteren Hinweisen auf Stress und das Verhältnis zum eigenen Vater, das alles sollen aber keine Ausreden sein, sondern nur Erklärungen, wie es zu dieser schlimmen Lebensphase kommen konnte.
Auf die Frage nach der Idee zu seiner Betrugsmasche war die Erklärung, er sei ja gelernter Lager-Logistiker und wisse, an welcher Stelle man da eingreifen könne, durchaus erhellend. Ein Indiz zu seiner Ergreifung war aber wohl ein Hinweis aus einem anderen Verfahren in einem anderen Bundesland, bei dem eine Facebook-Gruppe eine Rolle spielte, in der sich über solche Betrugsmaschen ausgetauscht wurde und wo er auch Mitglied war. Dazu konnte der Angeklagte aber nichts näheres sagen, den einen kenne er halt von früher. Weiterverkauf auf Ebay zu niedrigeren Preisen, diverse Mahnungen und Rechnungen haben trotzdem zu einer Verschuldung geführt, über deren Höhe er ein bisschen grübeln musste, früher war da auch mal eine Privatinsolvenz, die sei aber inzwischen abgeschlossen, momentan keine Berufstätigkeit, vor kurzem erst gekündigt und momentan krankgeschrieben und Bezug von Krankengeld. Keine Vorstrafen im Registerauszug.
Der Staatsanwalt plädierte also einerseits über das Geständnis und die Unbescholtenheit, andererseits über die hohen Schäden und die kriminelle Energie und listete für die einzelnen Taten verschiedene Geld- und Haftstrafen auf, für die er in Summe eine Haftstrafe von weniger als zwei Jahren forderte, die wegen der guten Prognose auf eine Bewährung von zwei Jahren ausgesetzt werden könne. Dazu komme die Einziehung der Taterträge, bei der er im Übrigen annähme, es handele sich bei der Summe in der Anklageschrift um einen Rechenfehler, tatsächlich sei sie zwei Euro niedriger als dort angegeben.
Der Rechtsanwalt führte noch einmal kurz aus, dass das Geständnis dem Gericht ein langwieriges Verfahren mit umständlicher Beweisaufnahme erspart habe und erklärte, dass der Angeklagte da mit seinem Spezialwissen in eine Sache hineingeraten sei, die eine Zeitlang leider zu gut funktioniert habe, als dass er sich da in seiner damaligen Situation selbst wieder habe herausmanövrieren können. Eine Strafe von einem reichlichen Jahr sei dem angemessen, die natürlich, auch der Staatsanwalt habe dies ja schon ausgeführt, auf Bewährung auszusetzen sei.
Der Angeklagte unterstrich noch einmal seine Reue und dass er aus der beschissenen Zeit damals gelernt habe.
Wir haben uns im Hinterzimmer auf die goldene Mitte von knapp anderthalb Jahren geeinigt und hatten auch gegen die Bewährungszeit von zwei Jahren nichts einzuwenden. Bei der Verkündung musste dann auch der Rechtsanwalt nochmal nachhaken, die Akustik des Saales, wieviele Monate? In der Erläuterung wies der vorsitzende Richter nochmal auf die Pros und Kontras hin: gewerbsmäßiges Handeln und die Ausnutzung seines Fachwissens einerseits, das glaubhafte Geständnis und das völlige Fehlen weiterer Strafen vorher und nachher andererseits, das berechtige durchaus zu der verhältnismäßig und unüblich kurzen Bewährungszeit von zwei Jahren. Das kam ja letztes Jahr in meiner Zeit bei der Drogenabteilung öfter vor, aber auch dort ja üblicherweise bei den sehr leichten Fällen, Beihilfe und ohne Vorstrafen und nicht geringe Menge nur minimal überschritten und so. Üblich sind also jedenfalls eigentlich im Normalfall immer drei Jahre. Nun gut.
Die Belehrung des Angeklagten. Erstens Rechtsmittel zugelassen, müssen aber innerhalb einer Woche eingelegt werden. Der Angeklagte verzichtete laut Rechtsanwalt darauf, die Staatsanwaltschaft wird wohl auch nichts einwenden, so der Staatsanwalt, also wird das Urteil wohl in spätestens einer Woche rechtskräftig. Zweitens Bewährungszeit, also keine weiteren Straftaten, das gilt für alle, aber für Sie ganz besonders, Schwarzfahren und all sowas ist alles Straftat, bitte nicht machen, sonst Risiko des Widerrufs der Bewährung, das wollen Sie nicht, das will ich nicht.
Fertig. Knappe Stunde. Die Stundenzettel (»Auszahlungsaufträge«) waren diesmal ordentlich vorbereitet, ich habe geflissentlich Ah und Oh gesagt und meine dankend entgegengenommen. Ob wir uns in vier Wochen wiedersehen, wollte der Richter noch wissen, aber Ladung hatte ich noch keine, nur für Mai; später fiel mir freilich ein, dass die Ladung zum anvisierten April-Termin ja durchaus noch kommen kann, der andere Schöffe (tatsächlich ein Ersatzschöffe) ist ja auch erst recht zeitnah über den Termin heute informiert worden, über E-Mail, wie er sagte. War mein Stamm-Mitschöffe schon wieder verhindert? Oder hab ich dieses Jahr gar keinen? Mal sehen. Viel Kontakt war jedenfalls nicht mit dem Herrn heute, dabei war ich mal verhältnismäßig kommunikativ drauf und er wirkte eigentlich ganz nett, Papier und Stifte wollte ich ihm auch borgen, aber es war ja auch gar nicht viel Zeit.
Dann hab ich vorm Gerichtsgebäude doch schnell nochmal das Portal geknipst. Stand ja keiner im Weg. Aber das sollte ich wohl besser später nochmal von der Straße aus oder vom Mittelstreifen aus wiederholen, es hat gar nicht ganz draufgepasst, die Treppe fehlt, die ja auch die Größenverhältnisse besser klarmacht, und das Wappen auf dem Sims stößt trotzdem an die Oberkante, das sieht doch gar nicht aus. Oder nur das schmiedeeiserne Tor aufnehmen, ohne das steinerne Drumrum, das könnte auch gehen.